FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE

von Albert Kümmel-Schnur
 
      
Erich Radscheit, Kiss IEs gibt da diese beiden kleinen Gouachen aus dem Jahr 1982, KISS 1 und KISS 2, zwei Arbeiten, die in ihrer Konkretion herauszufallen scheinen aus dem übrigen Oeuvre Erich Radscheits. Sie scheinen obszön. Eine Frau, ein Mann, auf dem ersten Bild beide nackt und in intimer Berührung, auf dem zweiten schon voneinander gelöst, er bekleidet, sie noch nicht ganz. Im Gegensatz zu dem, was die Titel 
dieser kleinen Serie sagen, küssen die beiden sich nicht.
KISS 1 zeigt dort, wo sich die Geschlechts­organe befinden, einen schwarzen Fleck. Was geschieht, lässt die Figuren zusammenfließen, findet sich zur Zweibeinigkeit eines einzigen Wesens, das im gemalten Rahmen des Bildes verfließt. KISS 2 misst den Raum zwischen den beiden mit blau-weißer, vielleicht ein wenig grauer Farbe aus, einer Farbe jedenfalls, die das erste Bild nur auf dem inneren Rahmen andeutungsweise zulässt.
Es ist ein doppelter Rahmen, mit dem Radscheits Gouache KISS 1 grob ein zinnoberrotes Feld umreißt, vor dem sich die Körper des Mannes und der Frau abzeichnen. Dynamisch trennt eine schwarze Linie Grund und Figur, gliedert das Bild in Form und Medium. Diese Linie nimmt den Zug des Rahmens wieder auf, der die Bildfläche einfasst, und stellt somit das klare Verhältnis von Rahmen und Gerahmten infrage. Man erkennt zwei Rahmen, deren äußerer durch schwarze Flecke und Schlieren sich deutlich abhebt vom inneren, der durch leichte Spuren von Weiß und Blau lichter wirkt. Die Figuren erwachsen aus dem äußeren, trüben Rahmen, die Umrisszeichnung nimmt die Möglichkeit der Verdichtung zum schwarzen Fleck auf, verdickt den Oberschenkel des Mannes und ver- oder enthüllt die intime Stelle, wo sich wohl die Hände der Figuren befinden müssen, ungezügelt gierig. Flecke, weniger deutlich zwar, aber doch sichtbar genug, wandern auch in die doch eigentlich gerahmt begrenzte Bildfläche ein.

Erich Radscheit, Kiss IINACKTER MANN MIT HUT
Figur und Grund, Bild und Rahmen hatten nie eindeutig voneinander getrennte Funktionen. Vielmehr gehen sie auseinander hervor, bedingen einander, umspielen einander. So werden Fleck und Linie in den Köpfen des Paars aus KISS 1 zu einer gezielt flächenbeschreibenden Pinselbewegung zusammengeführt. Der nackte Mann trägt, so könnte man sagen, aus bildorganisatorischen Gründen einen Hut. Der Hut ist weniger reales Objekt, er ist eher ein Element des Bildes, gesetzt, den übergroßen Kopf der Frau, der sich ihm entgegenstreckt, in der Schwebe zu halten. Die Nase dieser Frau scheint auch den dreieckigen Kopf des Mannes zu stabilisieren. Dieser Kuss ist ein Balance­akt. Radscheit gestattet deshalb den oberen Körperhälften seines Paars auch mehr Volumen, unterstützt von schmutzigem, leicht nervös gesetztem Gelb. So erst werden aus der wie sanfter Rauch vom Rahmen her hochströmenden Fata Morgana Körper von Gewicht.

DANACH? DAVOR? DAZWISCHEN?
KISS 2 wird nur durch den Titel auf KISS 1 bezogen. Das Paar ist menschenähnlicher, weniger vogelartig in Gesichtern und Haltung. Radscheit wählt einen fast quadratischen Zuschnitt, nicht eine rechteckige Bildfläche. Mann und Frau haben die Plätze getauscht, und die Farbpalette erscheint erweitert, vor allem um einen Grünton und ein deutlich leuchtenderes Gelb. Aber es gibt auch formale Gemeinsamkeiten, allen voran das prominente, breit auf­getragene Rot und den doppelten Rahmen. Die Flecken sind verschwunden, ersetzt durch klarer umgrenzte schwarze Farbfelder: Stuhl, Beine, Fußboden.
Überhaupt muss sich die Linie mit großer Kraft und Mühe gegenüber der Fläche behaupten. Die Funktion des fleckigen Schwarz aus KISS 1 haben, so könnte man denken, Farbflächen übernommen, die sich nicht mehr an die durch Linien gesetzten Grenzen halten. Das markant gezogene Schwarz sucht, diese Flächen zu disziplinieren, ihnen deutliche Funktionen in der Gestaltung der Figuren zuzuweisen, aber das will kaum gelingen. Linie und Fläche stehen in großer Spannung zueinander. Auf den ersten Blick will es jedoch scheinen, als behaupte sich die Linie. Doch dann? Dann sieht man den Raum zwischen den Figuren, der sich dieser Logik der Unterordnung der Fläche gar nicht fügen will. Und man hat den Eindruck, hier ereigne sich das Eigentliche, das, worum es auf diesem Bild gehen soll, nämlich der Kuss. Die Figuren küssen sich nicht – oder anders: Sie küssen sich nicht dort, wo man es sehen könnte. Nicht Mund auf Mund. Nein – der Künstler zeigt uns den Raum, der zwischen den Figuren entsteht. Ein explizit malerischer Raum, einer, der in keinem anderen Medium existieren könnte.

Erich Radscheit, Gangart IWEDER FIGUR NOCH GRUND
Dieser Raum ist weder Figur noch Grund. Er ist nicht einmal eine klar definierte Fläche. In groben Pinselstrichen ist der Raum zwischen Frau und Mann blaugrau markiert. Das Rot darunter 
ist gut zu sehen, und vonseiten des Mannes dringt schmutzig-gelbgrüne Farbe pastos in die­sen Raum hinein. Am unteren Rand, dort, wo der Oberschenkel der Frau die graue Fläche begrenzt, trägt Radscheit schwarze Farbe auf. Dieses Schwarz verleiht der Fläche Plastizität, vertieft sie in die dritte Dimension hinein. Weiter oben dann verliert sich die Dreidimensionalität. Es bleibt die Fläche. Gewicht erhält diese Fläche durch das golden schimmernde Gelb, das dem Graublau fast komplementär entgegengesetzt ist und die Figuren körperlich akzentuiert. So entsteht zwischen Mann und Frau eine dynamische Körperlichkeit, die die Fläche zwischen ihnen räumlich vertieft, während sie die Oberkörper der Figuren nach außen wölbt. Figuration, das wird noch einmal nachdrücklich deutlich, ist für Radscheit unabhängig von Mimesis. Nicht Figuren vor einem Grund werden dargestellt. Vielmehr ist die Malerei selbst der grundlose Grund von Figürlichkeit. Im Medium der Malerei wechseln Figur und Grund immer wieder die Positionen, erhalten ein schwebendes Gleichgewicht, das jenseits der Darstellung von etwas die Darstellung selbst betont.

Erich Radscheit, Gangart IITEMA CON VARIAZONI
Ich bin überzeugt, dass in dem Fließgleichgewicht von Figur und Grund, das ein explizit malerisches ist, die künstlerische Energie Erich Radscheits zu finden ist. Blickt man etwa auf eine andere Miniserie – Gangart 1 und 2 –, dann scheinen nur dem ersten flüchtigen Blick die Beziehungen zwischen Figur und Grund einfacher als bei KISS 1 und 2: weiße, scherenschnittartige Figuren staksen an krückenartigen Verlängerungen der Gliedmaßen vor einem schwarzen Grund durchs Bild. Schnell wird jedoch deutlich, dass die Figuren auch Auslassungen des Grundes selbst sein könnten. Gangart 2 legt diese Interpretation besonders nahe: Die Verwischungen am Rand lassen das Schwarzgrau des Grundes über die Figuren ragen, und der angedeuteten Plastizität der weißen Gestalten entspricht die ebenfalls angedeutete Tiefe des nur scheinbar flachen Grundes.
Worum geht es bei diesen Spielen? Es geht sicher nicht um gestaltpsychologische Kippfiguren. Die Wahrnehmung des Betrachtenden soll nicht ausgetrickst oder getestet werden. Vielmehr geht es um eine Kalibrierung der Wahrnehmung auf die Möglichkeiten des Mediums Malerei. Figuration ist für den Maler nichts anderes als Unterscheidungen, die ein pastoses Medium auf einem Trägermedium schafft.

Weiteres zur Erich Radscheit und zur Ausstellung

Wissenwertes kurz und knapp 
ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester
FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit
Auszüge aus dem Katalog (Auswahl einiger Werke)
Vernissage und Rundgang durch die Ausstellung

Downloads

Essay: ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester 
Essay: FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
Essay: ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit