ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN.

von Andreas Burmester
 
      
Erich Radscheit, ohne Titel, 58x77cmErich Radscheit (1911–2008) bin ich nur wenige Male begegnet. Er aufrecht, mit wachem Blick und schlohweiß gewordener Mähne, mit scharfem, kurz gestutztem Schnauzer. Ich will unseren Begegnungen keine zu große Bedeutung beimessen, doch wie er hörte, dass ich beruflich mit Kunst und Maltechnik zu tun habe, war sofort Gesprächsstoff gegeben.
Radscheits Herkunft aus dem Ruhrgebiet war unüberhörbar. 1911 in Gelsenkirchen geboren, führt ihn das Studium ab 1928 nach Essen, Düsseldorf und Kalkar. Unter seinen Lehrern sind Pfeiffer-Watenphul – der Landschafter –, Burchartz – der Grafiker, Typograf und Maler – und Coester – der Grafiker. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendet Radscheit seine Studien. Auf die Frage, was er nun mit seiner Freiheit als junger Künstler anfangen will, muss er keine Antwort mehr geben. Der Ausbruch eines erneuten Weltkriegs verpflichtet ihn ab 1940 zum Kriegsdienst, 1943 verliert er alle künstlerischen Arbeiten, dann folgt die Gefangenschaft bis 1947. Es ist das Schicksal vieler Männer dieser Zeit, und auch sein Lebenslauf verrät nichts über die Jahre im Krieg und die Monate nach der Rückkehr.


Erich Radscheit, ohne Titel, 34x36cm1948 gründet Erich Radscheit ein Büro für Werbegrafik und Produktdesign. Es ist ein Schritt, den auch der erwähnte Max Burchartz (1887–1961) ging. Der bis Ende 1931 an der Folkwangschule in Essen tätige Burchartz hatte eine Professur für Typografie inne, dort hat Radscheit ihn erlebt. Burchartz’ 
berühmte Werbeagentur »werbebau« mag Radscheit nach dem Krieg den Weg gewiesen haben, wie sich mit künstlerischer Begabung auch Geld verdienen lässt.
Für seine Malerei nutzt Erich Radscheit jede freie Minute. Es entsteht ein Lebenswerk voller Überraschungen: So weckt seine Vita Neugier auf einen Zyklus von rund 20 Stillleben der ersten Nachkriegsjahre. Zeitgemäß unpolitisch, entstanden an der Nahtstelle zwischen Diktatur und Demokratie, umgeben von Kontinuitäten. Wir begleiten Radscheit in die 50er- und 60er-Jahre, verfolgen gebannt die Entwicklung eines der Gegenständlichkeit verpflichteten Grafikers und Malers zu einem Künstler, der das Informel für sich entdeckt. Er entfernt sich von seinen Lehrern, von den Stadt­landschaften eines Max Pfeiffer-Watenphul (1896–1976) und den surrealen Radierungen eines Otto Coester (1902–1990). Er entfernt sich von seinen Porträts der frühen Jahre, von naturalistischen Zeichnungen, Stillleben und Radierungen, er entdeckt die Kraft der Fotografie. Radscheits neue Gestik und suchende Textur umschließt die Welt der informellen Kunst. Umso überraschender die späten, freien Radierungen und seine Rückkehr zum Porträt: Schließt sich hier ein Kreis? Kommt eine Rückbesinnung auf Früheres, Gekonntes? Ist es zugleich der Abschied vom Informel?

Erich Radscheit, ohne TitelDoch zuerst einmal beginnt 1975 ein Höhenflug: Ungebunden, wie befreit, ungehindert durch berufliche Verpflichtungen, ausgreifend, verschafft sich Erich Radscheits innere Bilderwelt Raum. Malen und Zeichnen, Mischtech­niken in Öl und Acryl, grafische und malerische Elemente, verschiedenste Formate, kompakt, geschichtet, farbstark. Unter Radscheits Hand entstehen zahlreiche Arbeiten in mittleren 
und kleinen Formaten. Seine zeichenhaften Figuren bekommen Horizont und Luft, halten Zwiesprache, vereinsamen, kippen ab, um­geben von Dunkel. Künden sich hier schon die letzten, schweren Jahre an?
Es waren schon immer die kleinen Formate, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen, nicht nur bei Radscheit. Seine kleinen Formate sind starke Gesten. Kleine Formate bündeln die ganze Erfahrung eines gereiften Künstlers auf gedrängte Fläche und richten die Aufmerksamkeit auf die kleine Episode. Die Kraft liegt im Kleinen. Klein ist unzeitgemäß, verlangen doch leere weiße Wände heute Größe. Klein stirbt auf Weiß. Heute folgt dem Bedürfnis nach Größe das Bedürfnis nach Deutung. 
Man muss wissen: Die Radscheits Arbeiten gegebenen Titel sind Schöpfungen aus der Zeit nach seinem Verstummen, sie sind in den Mund gelegt. Es ist wohlgemeint, doch ein fremder Blick. Radscheits reife Bilderwelten kommen aus Sphären, in denen unsere Fragen »Von wem kommt was? Was bedeutest du? Wie heißt du?« keine Rolle spielen. Und weil all dies keine Rolle spielt, entwickelt Radscheits Kunst dauerhafte Stärke.

Erich Radscheit, ohne Titel, 14x20cm Radscheit schafft so autarke Bilderwelten, entstanden aus immer wieder erfolgter Übermalung, die Form im Zufall suchend. Radscheits Welt bleibt dabei unserem inneren Auge vertraut. Radscheits Begabung als Zeichner der freien Natur, ob an Ostseestrand oder in den Tiefen Russlands, seine technischen Fähig­keiten als Radierer, sein als Werbegrafiker geschultes Auge, all das bricht sich jetzt Bahn und endet in archaischen Zeichen. Über die Bedeutung von Paul Klee für Burchartz’ Lehre an der Folkwangschule und über Pfeiffer-Watenphul, der unter dem prägenden Eindruck des Werkes von Klee seine Berufswahl ändert, führt mich eine Spur zu Radscheit. Auch wenn ich die Verbindung zwischen Klee und Radscheit eigentlich nicht zu ziehen wage – wir haben nie darüber gesprochen –, erinnere ich mich an einen Tagebucheintrag von Paul Klee, der kaum treffender auch für das Werk Radscheits passt. Es ist ein Eintrag aus dem Januar oder Februar 1918, eine Erfahrung, gewachsen in Jahren des Krieges, in Widernissen und in der Abgeschiedenheit des Malerglücks. Klee schreibt: »Alles versinkt um mich, und Werke entstehen wie von selber. […] Meine Hand ganz Werkzeug eines fremden Willens. Ich muss dort Freunde haben, helle und auch dunkle. Aber ich finde sie alle von großer ›Güte‹.«

Erich Radscheit, ohne Titel, 25x20cm Radscheits Bilderwelten sind ein Gegenentwurf zum Brotberuf, von Werbegrafik und Produktdesign. Sie sind das Gegenteil eines Wirkens an der Fassade unserer Gesellschaft. Radscheits Bilderwelten wollen nichts, sie werden nicht beauftragt, abgenommen und bezahlt. Sie sind ohne Nutzen, namenlos, folgen dem Zufall, kennen keine Vermarktung. Sie sind Ergebnis eines inneren Prozesses: Radscheits Hand wird – um mit Klee zu sprechen – geführt von Freunden, von hellen und auch dunklen, doch alle von großer ›Güte‹. Diese gütige Fügung schenkte Erich Radscheit ein prall gelebtes zweites Leben, voller Malerei, Musik, Begegnungen. Diese gütige Fügung schenkt uns im Gegenzug Bilder voller Kraft, Zeichenhaftigkeit und Schönheit.

Weiteres zur Erich Radscheit und zur Ausstellung

Wissenwertes kurz und knapp 
ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester
FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit
Auszüge aus dem Katalog (Auswahl einiger Werke)
Vernissage und Rundgang durch die Ausstellung

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Essay: ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester 
Essay: FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
Essay: ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
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