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„Der Standort ist also kein fester Ort, so wie das Dargestellte nichts Festes ist, sondern Bewegung.“[1]
Andrea Zaumseil weist ihren künstlerischen Arbeiten den Ort zu, der, Kant zufolge, der eigentliche
und zugig ungemütliche Ort der Philosophie ist: „Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf
einen mißlichen Standpunkt gestellet, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf
der Erde, an etwas gehängt, oder woran gestützt wird.“[2] Ein fester Standort, ein „Anker in der Welt“,
wie Andrea Zaumseil schreibt, der jedoch selbst „kein fester Ort“ ist und obendrein nicht von dieser
Welt. Das bedeutet: diese Arbeiten haben zwar einen Bezug zur Welt, leiten sich aber von diesem
nicht ab. Sie sind autonom, weil nur in sich selbst und auf sich selbst gegründet. Und gerade in dieser
besonderen Form der Unabhängigkeit basiert, noch einmal mit Kant, die Philosophie. Zaumseils Kunst
ist Philosophie in diesem Sinne, nur mit anderen Mitteln, Philosophie mit der Pastellkreide in der
Hand. Und doch – oder eben deshalb – ist die Form der Selbstgesetzgebung, die Andrea Zaumseils
Arbeiten charakterisiert, kein verspieltes l‘art pour l‘art. Dieser Kunst geht es tatsächlich darum, uns
etwas sehen zu laßen, was nur durch und mit ihr zu sehen ist. Sie ist ein offenes Fenster zur Welt.
In Ihrem Buch Territorien läßt uns Zaumseil in ihr Archiv blicken. Wir können schweifen
zwischen den gefundenen und den gemachten Bildern, den mit schwarzer Kreide pastellierten
und den fotografierten. Zerklüftete Oberflächen finden wir dort, ja, aber auch Unglücksfälle,
Naturkatastrophen, Krieg. So zusammengestellt, kann man die Haut des Kugelfisches nicht mehr bloß
als Skurrilität aus dem Naturalienkabinett irgendeines kunstliebenden Herrschers sehen, sondern
gleichzeitig als gebrochenes Spiegelbild der anderen Ereigniße, die da in Zeitungsaußchnitten
gesammelt Zeugnis geben vom Schrecken dieser Welt. Und umgekehrt: ist die Rauchwolke des
ausbrechenden isländischen Vulkans nicht eine gestaltete Oberfläche, ganz wie andere auch?
Raumobjekt und flüchtige Skulptur zugleich – nicht nur Zeichen einer Naturgewalt oder einer Naturkatastrophe?
Der Monumentalität, vielleicht auch Archaik der Ereigniße, die Zaumseil zeigt, entspricht die
Monumentalität der Pastelle: zwei, drei Meter hoch und breit, häufig aus mehren Blättern
aneinandergefügt. Diese Bilder erfaßt man nicht mehr mit einem Blick. Dafür bedarf es eines
schweifenden Blickes. Und so stellt sich in der Bildrezeption wieder her, was die Bilder selbst
notgedrungen ausblenden müßen: die Bewegung von Wolken, Waßer, Rauch, Kondenßtreifen.
Das Ereignis des Bildes organisiert auf diese Weise eine Beziehung zwischen dem Ereignis, das es
dargestellt, und dem Ereignis seiner Betrachtung. Es selbst befindet sich dazwischen, Medium sans phrase.
Allerdings ist selbst das Ereignis, auf das es sich bezieht, nur im Bild ein Ereignis. Streng genommen
hat niemand gesehen, was sich genau ereignete und das schon einmal gar nicht – viel zu flüchtig
sind die Bewegungen von Nebel, Rauch und Waßer, um einen einzelnen Moment als solchen mit
unbewaffnetem Auge zu erkennen. Was man wahrgenommen zu haben glaubt, hat sich im Moment
der Wahrnehmung bereits verändert und ist allenfalls ein erinnerter Eindruck. Und unsere Erinnerung
ist ja kein fotografischer Aufzeichnungsapparat, sondern arbeitet aßoziativ und dynamisch. Jede Erinnerung verwandelt das Erinnerte.
In Shakespeares Hamlet, diskutiert der dänische Prinz mit dem königlichen Ratgeber Polonius über
die Form einer Wolke:
Hamlet: Do you see yonder cloud that‘s almost in shape of a camel?
Lord Polonius: By the maß, and ‚tis like a camel, indeed.
Hamlet: Methinks it is like a weasel.
Lord Polonius: It is backed like a weasel.
Hamlet: Or like a whale?
Lord Polonius: Very like a whale.
Üblicherweise wird dieser Dialog als zynische Demonstration des Opportunismus des Politikers
Polonius durch Hamlet gedeutet. Diese Deutung sieht Hamlets Gestaltinterpretationen der bewegten
Wolke als beliebig an. Nun wäre es aber auch möglich oder gar wahrscheinlich, daß die Wolke
sich tatsächlich ändert oder aber, daß ihre Form nicht eindeutig ist. Diese Lektüre würde an der
Charakterisierung von Polonius nicht viel, an der Hamlets jedoch alles ändern. Hamlet suchte, ganz
unzynisch, Wahrheit in einem unklaren Fall und erhielte nur Speichelleckerei.
Andrea Zaumseil nennt ihre close-up Darstellungen von Wolken „Himmelsbilder“ und spielt damit
auf die beliebte imaginative Deutung zufälliger natürlicher Konstellationen an. Doch, wiewohl es
möglich ist, in ihren Himmelsbildern Figuren, Gesichter etwa, zu erkennen, so zielt die Darstellung
selbst nicht auf diesen Effekt. Ein Bild, das hat uns der Stuttgarter Informationsästhetiker Max Bense
gelehrt, entspringt zunächst und vor allem einem Selektionsakt, der, da können wir dem New Yorker
Kunstwißenschaftler Meyer Shapiro folgen, durch Rahmung vorgenommen wird. Der Rahmen macht
das Bild. Soll eine Wolkenformationen zum „Himmelsbild“ werden, muß sie also sich außchnitthaft in ein Rechteck fügen.
Aber, wer weiß, vielleicht trügt ja der Titel? Vielleicht führt er auf eine falsche Spur – vielleicht sind
diese Bilder vom Himmel ja gar keine solchen. Vielleicht sind es, genau wie diejenigen, die so betitelt
sind, Bilder von Rauch (was, das sei nebenbei bemerkt, natürlich auch bedeutet, das die Bilder, die
„Rauch“ zeigen, vielleicht eben doch eigentlich Bilder von Wolken sind. Kamelen. Wieseln. Walen.
Wer weiß... The answer. My Friend.). Was nunmehr die Debatte, die eine des Archivs zu sein schien
oder beßer, des Verhältnißes von Archiv und Werk, ins Werk selbst hineinnimmt. Die Selektionen,
die Zaumseil vornimmt, jene Entscheidungen, die das Bild überhaupt erst zu einem solchen machen,
trennen allen Kontext eines Phänomens ab. Wir sehen nicht mehr ‚Rauch‘ oder ‚Wolke‘. Wir sehen
– ‚Bild‘. Rauch und Wolken sind uns vertrauter als die Haut des Kugelfisches – weshalb es uns nicht
gelingen will, die Referenzkette abzuschneiden, die aus dem Bild heraus in die Welt führt. Aber, aber –
vielleicht ist ja bereits die Suggestivität des Archivs eine Täuschung. Vielleicht haben wir, habe ich, hat
jede und jeder, der das Buch, das sich selbst „Unbetretbare Orte“ nennt, durchblättert, durchgesehen,
angeschaut hat, sich in die Irre führen laßen durch die Suggestion des Pendantprinzips: hier
Zeitungsauschnitt – dort Pastell. Das eine Vor-Lage. Das andere Ab-Bild.
Samuel Becketts Roman „The Unnamable“ beginnt mit der Frage, ob er nicht eigentlich gleich wieder
aufhören sollte, weil das Beginnen bereits eine Aporie sei, eine Ausweglosigkeit. Oder eben das
Betreten eines unbetretbaren Ortes. Denn darum scheint es doch im Kern von Zaumseils Arbeiten
zu gehen: Unbetretbarkeit als betretbare Unbetretbarkeit, Referenzlosigkeit als indexikalisches
Verfahren, das aus der Sackgaße der Selbstbezüglichkeit hinausweist, zu praktizieren. Nicht:
zu verstehen. Sondern: sichtbar zu machen. Indem sie zeigt, was wir nicht sehen, ohne dieses
Nichtsichtbare selbst wiederum zeigen zu können. Und das eben heißt: Kunst als philosophische
Praxis, deren Außagen gerade deshalb Bestand haben, weil sie sich auf gar keinen anderen Grund als sich selbst berufen können.
[1] Andrea Zaumseil: „Notizen über das Zeichnen“, in: dies.: Unbetretbare Orte. Zeichnungen. Fundstücke. Texte, Freiburg i.Br.: modo 2013, o.p. Die folgenden Zitate ebd.
[2] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 56. |
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