Ganz im Ernst! Oder nur aus Spaß? – ein Plädoyer für die Empathie in der Kunst

von
Andrea Dreher M.A.
 
      
„[…] 3. Jeder echte Künstler ist zur Umänderung seiner Umwelt geboren. 4. Preise, Stipendien, gute Kritiken, alles wirft man uns nach; aber eins ist sicher: brauchen kann man uns nicht . 5. Unbrauchbarkeit ist unser höchstes Ziel: Gaudi ist unpopuläre Volkskunst. 6. Die ganze Welt ist der Bereich, in dem sich der schöpferische Impuls , der allein der Gaudi vorbehalten ist, entfalten kann. 7. Alles, was anwendbar ist, i st nicht für den Menschen . Ohne den Künstler gäbe es jetzt schon keinen Menschen mehr. […]“

Dieser Auszug aus dem insgesamt 20 Punkte umfassenden, so genannte „Gaudi-Manifest “ vom Januar 1961 der Künstlergruppe SPUR , liest sich heute mit einigem Befremden. Nicht wegen der Inhalte, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass sich junge Künstler gemeinsam und mit Programmen auf die Straß e wagten und ihre Positionen laut skandierten. Heute ist es leise geworden um des Bildenden Künstlers Stimme, nur wenige treten ver bal attackierend auf, und wenn, dann nicht im Kollektiv.

Wir sprechen häufig von einer Spaßkultur und meinen dabei nicht die Kunst, sondern unsere hedonistisch geprägte Gesellschaft , die das subjektive Glücksgefühl in den Mittelpunkt stellt und das Gemeinwohl dabei gerne vernachl ässigt. Doch zum Glück gibt es Männer wie T itus Koch , der uns mit seinem über Jahre hinweg reich enden und erfolgreichen Engagement für die E xperimentelle zeigt , dass Kunst auch Spaß machen kann, ja dass die Arbeit mit Kunst und das Zusammensein mit Kunstschaffenden sogar Spaß machen muss, weil ein Leben mit Kunst werken immer ein Leben ist, das in die Tiefe geht.

Der Mehr wer t eines Lebens mit Kunst ist nicht in Zahlen zu bemessen, wenngleich der Hype um mehrstellige Millionenbeträge, die inzwischen für vereinzelte Kunstwerke bezahlt werden, regelmäßig Schock wellen auslöst und die Kunst als Investment so immer attraktiver macht.

Im Folgenden werden sechs künstlerische Positionen vorgestellt, die nur eine kleine Auswahl aus dem großen Feld der Kunst und der an vielen Orten stattfindenden E xper imentelle 2016 darstellen. E xempl arische Betrachtungen verstehen sich immer als Impulsgeber. Wenn jedoch ein vom Kunstwerk ausgehender Impuls zu neuen Gedanken, Dialogen und vielleicht zu einem gemeinsamem Staunen und Lachen führt , dann ist viel erreicht in einer Welt, die sic h zunehmend absch ottet , weil das „Andere“ an Bedeutung zunimmt.

Vielleicht sind wir uns sogar einig, dass man sie [die Künstler] doch brauchen könne, was vor 55 Jahren im Punkt 4 des SPUR-Manifestes noch infrage gestellt wurde. Und über die Brauchbarkeit von Kunst lässt sich trefflich streiten, wobei wir wieder am Ausgangspunkt angekommen wären.

Helmut Sturm
Der 2008 verstorbene Maler war zeitlebens Vertreter einer Kunst, die nicht dem Perfektionismus verpflichtet war, sondern die – ausgehend von ihrer subjektiven Ausdrucksform – im besten Fall individuelle Assoziationen in uns Betrachtern auslösen sollte. Der aus der Oberpfalz stammende Künstler war ein engagierter Mitbegründer zahlreicher Foren und Künstlergemeinschaften, in denen er sich und seinen Mitstreitern mitnichten den Weg in die White Cubes der etablierten Kunstszene ebnete, sondern künstlerisch auf gesellschaftliche Prozesse reagierte und dabei keine Hürden scheute, um für die Freiheit der Kunst einzutreten.

„Kunst muss aber gar nichts, außer bildnerisch so gut wie möglich zu sein“, sagte er 2006 im Interview mit Jo-Anne Birnie Danzker. Helmut Sturms bildnerische Malerei ist extrem autonom und ehrlich. In seinen Bildebenen schiebt und zieht er unsere Aufmerksamkeit hin und her, es scheint, als wehrten sich seine Formate somit gegen flüchtige Blicke und oberflächliche Vereinnahmungen. Vielmehr wirken die Faktur von Sturms Arbeiten und insbesondere sein malerischer Duktus wie Schutzschilde, um diese Bilder vor einer falschen Lesart zu bewahren. Wer sich auf Sturms Bildwelten einlässt, braucht Zeit und muss sich stets inneren Fragen (das sind immer die eigenen) stellen, denn diese Bilder lösen mehr Fragen aus, als dass sie Antworten liefern. Der SPUR-Kollege Lothar Fischer sagte über Helmut Sturm rückblickend einmal, dieser sei ein Utopist mit einem großen Fernziel. Auch wenn Sturm keine verbindliche Antwort auf diese Charakterisierung liefern wollte, wird doch klar, dass die Einschätzung seines Kollegen im Kern der Wahrheit entsprach. Denn Sturms Malerei, die im Prozess ihrer Entstehung jede Beliebigkeit ausklammert, tritt als Botschafterin eines gesellschaftlich relevanten Systems auf, welches auf Farbe und Form basiert und die Suche nach einer idealen Wirklichkeit niemals aus den Augen verliert. Trotz oder vielleicht aufgrund dieser „Suche nach der idealen Wirklichkeit“ hat Helmut Sturm ein bildnerisches Werk hinterlassen, das zu den bedeutendsten Zeugnissen der abstrakt-expressiven Malerei in Deutschland nach 1945 gehört. Seine Bilder entstanden für Sturm aus Formkernen heraus, deren Energiereserven sich während des Malens dynamisch ausdehnen und in neuen Kompositionen, Schichtungen und Rhythmen ‚austoben‘ sollten, um im Ergebnis das zu erreichen, was dem Maler am Herzen lag, nämlich ein mit optischer Energie versehenes neues Kraftfeld zu generieren.

Franz Hitzler
Alle Kenner des Werks des 1946 bei Regensburg geborenen Malers Hitzler sind sich einig, dass man bei diesem Künstler vom Leben auf das Werk schließen darf. Seine Kindheit und Jugend, in der er zunehmend zum „Prügelknabe“ abgestempelt wurde, bilden bis heute die Wurzeln seiner Malerei.

Hitzler floh als 15 Jähriger aus der bayerischen Enge nach Amsterdam, um dort die Werke Rembrandts zu bestaunen. Die Begegnung mit den Gemälden des großen Niederländers hinterließ nachhaltige Spuren im Leben und Werk des jungen Mannes und führte vor allem dazu, dass Hitzler im Jahr darauf das Studium der Malerei begann.

In Rembrandts um 1635 entstandenem Gemälde „Das Gastmahl des Belsazar“ erscheint dem babylonischen König Belsazar, der während der Belagerung Babylons durch die Perser ein üppiges Gastmahl ausrichtet, plötzlich eine geheimnisvolle Hand, die einen Text an die Wand schreibt, den nur der jüdische Prophet Daniel entziffern kann. Zu diesem Text „mene mene tekel u-parsin“ lesen wir in der Bibel die Deutung des Propheten. „MENE: Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. (Dan. 5).“ Das erstarrte Gesicht des Königs auf Rembrandts Bild zeigt, dass dieser den Text bereits als warnendes Vorzeichen des Untergangs verstanden hat.

Menetekel lautet der Titel des abgebildeten Bildes von Franz Hitzler, ein von der Farbe Rot dominiertes Hochformat, in dessen Bildmitte ein gelbes, kreuz-oder-x-förmiges Schriftzeichen im Bildvordergrund zu schweben scheint und seitlich je eine menschliche Figur zeigt, die in den Bildhintergrund versetzt ist. Die im Bild angelegte Spannung ist physisch spürbar, denn – obwohl zunächst ahnungslos – neigen wir spontan dazu, unseren Abstand zum Bild zu vergrößern, um uns dessen Bann zu entziehen. Warnung und Faszination zugleich sind es, die nicht nur das Wesen dieser Arbeit Hitzlers bestimmen. Vielmehr geht es in seinem gesamten Werk um existenzielle Erfahrungen, die sich in unser subjektives Empfinden eingraben und suggestiv auf unsere Wahrnehmungsebenen Einfluss nehmen, ohne dass wir uns dessen rational bewusst werden.

Anlässlich der Verleihung des Friedrich Baur-Preises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Jahr 2009 formulierte Franz Hitzler u.a. folgende Worte: „Die Malerei ist eine in die Zukunft geöffnete Tat. Sie hat den erlösten Raum. Sie hat den Jubel des Seins im Werden. Das Tote will nicht sterben und das Lebendige will erlöst sein im Unnennbaren. Wir tragen den Schatten des Dämons und offenbaren uns im Ringen um Erkenntnis. Wir sind im Werden, und keiner weiß um den Tag, an dem wir sind.“ (Franz Hitzler: Farbe ist mein Leben, Prestel-Verlag, 2009, S. 123)

Hitzlers Kunst ist eine Malerei der archetypischen Formen und der dämonenhaften Wesen. Die kraftvoll eingesetzte Farbe entlässt seine Figuren in den Bildraum, während die Konturen als haltgebende Elemente im Bild fungieren. In Hitzlers Welt folgt alles einem übergeordneten Zusammenhang, was zur Folge hat, dass es keine Statik und keine Abbildhaftigkeit in seinem Werk gibt, sondern stattdessen einen stetigen Prozess der Transformation, der seinen Bildern eine Lebendigkeit schenkt, die nur teilweise in unserer realen Wirklichkeit zu verorten ist. Mit der Erkenntnis „Unmöglich, diesen Bildern indifferent zu begegnen.“(Franz Hitzler: Gemälde und Radierungen, Prestel-Verlag 1994, S. 9-11) fand der Autor Kurt Schäfer den idealen Titel für seinen Beitrag über seinen Freund und genialen Maler Franz Hitzler.

Gabi Streile
Gegen den Willen des Vaters hat die gebürtige Karlsruherin beschlosen, an der Akademie ihrer Heimatstadt Kunst zu studieren. Während der Akademiezeit beschäftigte sie sich intensiv mit dem Thema Portrait und Selbstportrait. Erst während eines halbjährigen Toskana-Aufenthaltes tauchten erste Natur- und Stillleben-Motive in ihrem malerischen Werk auf. Als eine Vertreterin der „Badischen Figuration“ der ersten Stunde zählt sie heute zu jenen Künstlerinnen und Künstlern, die an die Kraft des Motivs glauben und die diese Kraft des Motivs in eine dialektische Spannung im Bild umsetzen.

„NATURA DUCE OPTIME VIVITUR“ (mit der Natur als Führer lebt man am besten) betitelte Gabi Streile eine Ausstellung im Jahr 1998. Ihre Bilder liefern uns in erster Linie eine Schule des intensiven Sehens. Und ausgehend vom Sehen, lösen wir uns bei längerer Betrachtung schrittweise vom Motiv und öffnen uns für die Tiefe im Bild.

Streile scheute lange Zeit die starre Leinwand und bevorzugte z.B. Packpapier als Bildträger. Doch inzwischen habe sie auch die Leinwand „gezähmt“, kam ihr im Gespräch über die Lippen, allein das Weiß ertrage sie nach wie vor schwer, weswegen viele Bilder farbige Grundierungen aufweisen. Manches ihrer Ölgemälde wirkt fast wie ein Aquarell. Doch dieser erste Schein trügt, denn es geht dieser Malerin nicht um die Flüchtigkeit des Augenblicks, den sie mit dem Pinsel bannt, sondern ihre Landschafts- und Blumenbilder erzählen von Zeit und Raum. Jede Farbschicht im Bild hat daher ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit, und jede Schicht bleibt so auch für uns Betrachter sichtbar.

Wer dem Charakter einer Landschaft, einer Blume oder eines Menschen auf den Grund geht und diesen als Musiker, Maler oder Dichter zu formulieren versucht, der erstellt Portraits. Und in der Tat ist Gabi Streile eine Natur-Porträtistin. Ein gutes Personenportrait spürt dem menschlichen Wesen nach und zeigt uns Betrachtern ein Gegenüber, mit dem wir in einen Dialog treten wollen. Ein gutes Landschaftsportrait spürt dem Wesen der Natur nach und lädt uns ein, diese Landschaft betreten zu wollen, um das prägende Verhältnis von Topographie und Zeit am eigenen Körper zu erfahren.

Um gegen die drohende Statik im Bild zu opponieren, braucht Gabi Streile den gestischen Pinselstrich und die tropfende Farbe im Bild. Sie setzt diese malerischen Mittel ein, um dem Motiv einen möglichst freien Raum im Bild zu ermöglichen, welcher, auf den Betrachter übersetzt, wiederum Freiräume in unseren Köpfen generieren soll. Viele ihrer Bilder öffnen sich zu den Rändern hin und führen über den Bildrand hinaus in einen imaginären Bildraum. Gabi Streile weiß um die Beschränktheit der Mittel der Malerei, sie kennt die Maße ihrer Leinwände und lotet diese aus. Bei der Formatwahl bevorzugt sie die Größe, bei der sie selbst im Bild spazieren gehen kann. Immer wieder arbeitet sie auch in Diptychen oder Triptychen, um ein Motiv über mehrere Bildtafeln ausdehnen zu können und der Malerei dadurch mehr Raum einzugestehen.

Hans Schnell
Hans Schnells als „Natura Morte“ betiteltes Motiv (Abbildung) führt die Malerei heraus aus dem Rahmen und greift als Holzobjekt in den Raum ein. Das Werk des Dahmen-Schülers Hans Schnell erregte früh die Aufmerksamkeit der Kunstkritik, denn dem genialen Zeichner Schnell genügt selten der Strich alleine, sondern er mischt und akkumuliert Techniken, die seinen Bildern eine haptische Schönheit verleihen. Schnell gestikuliert als Zeichner, er formt als Maler und er begreift seine Kunst als das Territorium eines Forschers, der – einem Archäologen ähnlich – Spuren sucht und Spuren hinterlässt. Als ein dem Informel verpflichteter Maler nimmt für Schnell das handwerkliche Tun eine zentrale Rolle im Bildprozess ein, während er formale Zwänge oder hierarchische Ordnungen bewusst ablehnt.

Was ist es, wenn ein Holzkrokodil mit geöffnetem Maul ein monochrom angelegtes rotes Ölbild besetzt? Würgt das Tier die Farbe heraus oder steht die Farbe für das dem Krokodil zum Opfer gefallene Tier? Oder war es gar ein Mensch? Obwohl kleinformatig, stellt diese Arbeit doch große, um nicht zu sagen, existenzielle Fragen an uns. Zunächst wirkt die Bildszene fast verspielt, doch bei näherer Betrachtung erkennen wir auch rote Farbspuren auf dem Krokodil, als habe ein Kampf stattgefunden. Vielleicht auch der Kampf des Malers mit dem Bildhauer, also ein innerer Paragone, der im Herzen dieses vielseitigen Künstlers die einzelnen Prioritäten auslotet und miteinander in Beziehung setzt.

Stets basierend auf einer präzise gewählten materiellen Grundlage, fokussiert Hans Schnell in seinen Arbeiten den Kern eines Gedankens oder skizziert die Basis einer Handlung, bei der die innere Befindlichkeit und die äußere Zustandsbeschreibung alternierend an die Oberfläche treten.

Die Werke des gebürtigen Müncheners wirken zwar zumeist chiffrenhaft und spontan, aber in Wahrheit sind seine Farbspuren, Zeichen und Strichfolgen mit hoher Konzentration gesetzte Affirmationen. Ein wesentlicher Faktor dieser Werke ist der Freiraum im Bild, dem Schnell eine große Bedeutung beimisst. Der Künstler trotzt dem horror vacui, indem er seine Bildräume bewusst öffnet und kompositorische Kraftfelder in seine Bildbühnen setzt, die keinen alternativen Standort im Bild zulassen. Vielleicht ist es „Ein Gefühl der Unausweichlichkeit“, so der Titel einer Arbeit aus dem Jahr 2002, das Hans Schnell zum Tun anregt, und seiner Kunst einen Stellenwert gibt, der weit über die ästhetische Wahrnehmung hinausreicht.

Marc Felten
Gelb und schrill sind die ersten Assoziationen, die einem im Zusammenhang mit dem Werk des Straßburger Künstlers Marc Felten in den Sinn kommen. Wer sich auf seine Homepage klickt, mag sich bestätigt fühlen, denn man hört zunächst coole Beats, bevor man Feltens Bildergalerie anklicken kann. Und wer einen Text sucht, muss durch einen gelben „Kasten“ scrollen.

Im Mittelpunkt von Marc Feltens Werk steht der menschliche Körper, den der Künstler als Material einsetzt in alle erdenklichen Posen zwingt und motivisch im Kunstwerk präsentiert. In den letzten Jahren entwickelte er eine Bahn brechende Collage-Technik, die uns stilistisch als Neo-Pop-Kunst fasziniert. Indem Felten gerne die Posen seiner Bildprotagonisten überreizt und zum Beispiel aus Tier-, Mensch- und Möbel-Collagen neue Objekte formt, entführt er uns in die Welt der fabelhaften Wirklichkeit. Undefiniert bleiben dabei seine Räume, die meist aus monochromen Farbflächen bestehen und somit den Bildern jeglichen Bezug zur Realität entziehen.

Setzt man Feltens Kunst in Zusammenhang mit dem Phänomen der Phantasmagorie, so kommt man ihrem Wesen bedeutend näher. Phantasmagorie bezeichnet wörtlich die Darstellung von Trugbildern oder phantastischen Bildern auf der Bühne.

Berühmt sind vor allem die als Geisterdarstellungen bezeichneten Phantasmagorien der Laterna magica-Vorführungen, die vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein in ganz Europa verbreitet waren und vor allem im 19. Jahrhundert ein Massenpublikum erreichten. Ihre Blütezeit hatten die Phantasmagorien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Aufgrund der Wirkung dieser Projektionen war die Laterna magica auch unter dem Namen „Schreckenslaterne“ bekannt.

Auch Felten spielt mit dem Szenario des Schreckens, wenn er Skelette, geöffnete Torsi, oder schmerzverzerrte Münder in seine Bild-Collagen setzt. Technisch überaus versiert, überlässt es der Künstler übrigens uns Betrachtern, abzuwägen, an welchen Stellen im Bild sich gedruckte Medien und klassische Malerei trennen bzw. verbinden. Felten geht es um das große Ganze und um die große Bühne einer Kunst, die sich im diametralen Gegensatz zum banalen Alltag positioniert. Seine Bilder bieten Fluchtwege heraus aus der vermeintlichen Realität und führen uns in eine neu figurierte Handlungs-Ebene, in der sich seine Helden und Hauptdarsteller extrem selbstbewusst und Kraft strotzend präsentieren.

In einer seiner Arbeiten sitzt auf dem Rücken eines Stiers ein roter Button mit gelber Aufschrift „Play“. Diese Aufforderung, ein Spiel zu beginnen, ist vermutlich der beste Einstieg in das Werk dieses in seiner Arbeit hintersinnig und skurril wirkenden Künstlers, der es versteht, mit analogen Darstellungen der digitalen Verführung Paroli zu bieten.

Ute Klein
Man möchte tauchen oder schweben, keinesfalls gehen oder stehen, wenn man Ute Kleins Bilder betrachtet. Die Werke dieser Schweizer Künstlerin wirken selbst in großen Formaten ephemer und zart, vielschichtig und dünnhäutig. Der Dialog Bewegung und Form ist nicht nur ein Kernthema im Werk Ute Kleins, sondern auch ein wichtiges physikalisches Forschungsthema, was die beiden Naturwissenschaftler Holzner und Kinzelbach in Kleins Katalogbuch: Fluss (2014) in ihrem Artikel „Zur Dynamik und Formbildung von Flüssigkeitsfilmen“ eingehend betrachten.

Die Malerei von Ute Klein ist eine Kunst der Phänomene, inspiriert durch die organischen Formen der Natur und geleitet vom Akt des Fließens. Seit 2005 beschäftigt sich die Malerin mit dem Fluss der Farbe. Kaum hat sie die Ölfarbe aufs Papier oder die Leinwand gekippt, beginnt der Prozess der Bildentstehung, indem die Malerin sich selbst und ihren Bildträger in Bewegung setzt und sich fortan in eine Phase des Wartens und Handelns begibt. Eine solche Vorgehensweise erfordert höchste Konzentration und hohe Fachkompetenz, denn Korrekturen sind nicht möglich.

Der Vorteil der klassischen Ölmalerei ist es, dass diese Technik den Aufbau eines Bildes in zahlreichen Schichten ermöglicht. Ute Klein jedoch konterkariert diese Tradition, indem sie in Öl „aquarelliert“, dabei auf den Pinsel verzichtet und folglich die Entstehung ihrer Bilder ganz der Geste unterordnet. Diese gestisch-meditative Grundhaltung zeugt von einer starken Körperwahrnehmung dieser Künstlerin. Die auf diese Weise entstehenden, fließenden Formgebilde sind somit Resultate eines Prozesses, der mentale Offenheit und absolute Vertrautheit mit dem Medium erfordert. Kleins Bilder erscheinen als verdichtete Substrate einer neuen Formensprache. Vergleicht man sie mit der Sprache, so erinnern sie an lyrische Fragmente ohne Reimschema. Nicht das Ergebnis steht im Mittelpunkt dieser Malerin, sondern die Bildfindung. Ute Klein hat sich vor über zehn Jahren auf eine künstlerische Reise begeben, deren Ziel vor allem der Weg ist.

Bei längerer Betrachtung wirken Kleins Kunstwerke wie Gedanken verlorene Antidots in einer rational bestimmten Welt, die sich mehrheitlich dem Multitasking und dem Geschwindigkeitsrausch verschrieben hat. Wollen wir tatsächlich immer höher, weiter, schneller … in einer Welt der Superlative leben oder ist es nicht gerade die philosophische Tiefe, die ein gutes Leben ausmacht.

Erst wenn unser Atem nicht stockt, sondern zu fließen beginnt, ist die physische Voraussetzung gegeben, unseren persönlichen „Flow“ zu erfahren und dadurch Körper und Geist in Einklang zu bekommen.

Die besondere Intensität, die wir bei Betrachtung dieser Kunst erfahren, ist – ergänzend zu aller formalen Freiheit in den Bildern – jenem Hauch von Sinnlichkeit zu verdanken, der dieser Malerei innewohnt. Wollte man diese besondere Mischung aus Fluss, Freiheit, Bewegung und Sinnlichkeit in einem Wort zusammenfassen, so bliebe nur das eine übrig: Schönheit.

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Am Anfang aller Kunst steht immer ein Idee, ein Gedanke. Oft vergessen wir, wenn wir in wenigen Minuten eine Ausstellung durchstreifen, welche großen geistigen Prozesse sich hinter dem verbergen, was wir als „Ergebnisse“ an der Wand hängen oder im Raum stehen sehen. Ob Kunst schön oder hässlich, gesellschaftspolitisch relevant, autobiographisch geprägt, provokativ oder aufklärerisch auftritt, ist sehr stark kontextabhängig. Ein Kunstwerk in der Galerie wirkt vollkommen anders als dasselbe Kunstwerk in unseren eigenen vier Wänden oder am Arbeitsplatz. Nur, wer den Versuch unternimmt, mit Kunst zu leben, weiß um die Kraft der Kunst als Quelle des Lebens.

Die verschiedenen Ausstellungsorte der Experimentelle und das Aufeinandertreffen von stilistisch sehr unterschiedlichen Kunstwerken schafft eine einmalige Gemengelage, in der die Kunst immer im Mittelpunkt des Geschehens steht. Uns wird im Rahmen der Experimentellen die Chance geboten, regionale, nationale und internationale Dialoge zu führen und dabei grenzüberschreitend zu denken und zu handeln.

Ein entscheidendes Kriterium für die Qualität guter Kunst ist es, wenn das Kunstwerk eine subjektive Aussage formuliert. Denn wo Beliebigkeit herrscht, ist kein Platz für echte Kunst. In der vorstehenden exemplarischen Besprechung von nur sechs künstlerischen Positionen sollte insbesondere dargelegt werden, wie essentiell die Kunst für unser Leben ist. Ob inhaltlich der Ernst oder der Spaß überwiegen, entscheidet nicht das Kunstwerk allein, sondern entscheidend hierfür sind wir, als individuelle Betrachter, im partizipativen Dialog mit der Kunst!

Weiteres zur Experimentellen 19 - Aus dem Katalog zur Ausstellung

Daten und Fakten
Grußwort von Peter Friedrich
Wilkommensgruß von Philippe Richert
Alles eher locker von Stefan Borchardt
Ganz im Ernst! Oder nur aus Spaß? von Andrea Dreher M.A.
Anker in der Welt, gesehen von einem Standpunkt außerhalb der Welt von Albert Kümmel-Schnur
Teilnehmende Künstler / Katalog
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