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Als vor nunmehr 28 Jahren die Initiatoren der Experimentellen ihr Ausstellungsunternehmen
begannen, bezogen sie sich mit der Wahl des Namens
nicht allein auf ein wichtiges Antriebsmoment der von ihnen geschätzten und
für die erste Ausstellung ausgewählten Kunst, sondern sie kennzeichneten
damit auch explizit den wesentlichen Charakter ihres eigenen Projekts – das
kulturpolitische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Experiment, eine Ausstellung
zeitgenössischer Kunst abseits ihrer Zentren und anderer Metropolen
in grenznaher ländlicher Umgebung ins Leben zu rufen. Nachdem dies
geglückt war, folgte im Anschluss daran die Fortsetzung des Experiments, im
Bestreben, die Ausstellung am Leben zu halten und immer wieder neu mit
Leben zu füllen. Dabei ist es gelungen, den Wirkungskreis von Ausstellung
zu Ausstellung zu erweitern und über Gottmadingen, dem ersten Ausstellungsort,
mit dem Schloss Randegg als Herzstück und Keimzelle des Unternehmens
hinaus zu wachsen. Seit der Jahrtausendwende bildete die Experimentelle
immer neue Ableger an verschiedenen Orten. In diesem dendritenartigen,
organischen Wachstum des gesamten Ausstellungsprojekts wie im
steten Wechsel einiger ihrer Ausstellungsorte, offenbart sich eines der wesentlichen
Charakteristika dieser im Spektrum der Gegenwartskunst ungewöhnlichen
Kunstbiennale, ihre strukturelle Offenheit und Flexibilität. Was
diese Ausstellung – oder, angesichts der zahlreichen gleichzeitig bespielten
Ausstellungsstationen genauer gesprochen: den Ausstellungsverbund Experimentelle
durchgehend prägt, vom zugrundeliegenden Kunstverständnis bis
in die Organisationsformen hinein, ist ihr informeller Charakter.
Die Experimentelle verfügt weder über eine explizit formulierte Programmatik,
die sie alle zwei Jahre neu überdenken müsste. Noch scheint sie dem
erregten und erregenden Puls des Kunstbetriebs folgen zu wollen. Dementsprechend
schlagen sich auch in der Experimentellen nicht unmittelbar die
wechselnden aktuellen Kunstströmungen nieder, die während ihres Bestehens
aufgekommen sind, weshalb sie manchem Kritiker oder Besucher zeitlich
entrückt und abseits vom aktuellen Kunstgeschehen erscheinen mag.
Darin, wie in vielem anderen, unterscheidet sich die Experimentelle im Kern
von anderen turnusmäßigen Ausstellungen zur Gegenwartskunst, wie den
zahlreichen Biennalen oder der Documenta, die für die jeweils folgende Ausstellung
eine neue Programmatik ins Zentrum stellen.
So gesehen, offenbaren sich in den verschiedenen Konzepten unterschiedliche
Einstellungen zu den künstlerischen Prinzipien der Avantgarde, die die
Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts prägten und die – obwohl ihre Gültigkeit für die Gegenwart schon längst im Zuge der Postmoderne und der ihr folgenden kritischen Revisionen
der Avantgarde bestritten und negiert worden ist – noch immer die Rezeption und Bewertung
künstlerischer Ausdrucksformen sowie kunstbetrieblicher Anstrengungen wesentlich bestimmen. Am
unmittelbarsten und deutlichsten sichtbar wird dieser Umstand im Streben dieser Unternehmungen
danach, dem Takt aktueller Kunstströmungen zu folgen, mit ihm zu gehen oder gar ihn vorzugeben, auf
jeden Fall aber, ihn zu reflektieren, was den zügigen Austausch der für Ausstellungen ausgewählten
Kunst ebenso befördert wie den Wechsel der Präsentationsformen. Jede neue dieser Ausstellungen
besteht in der Konjunktion mit der Aktualität und in der Distinktion zur jeweils vorangegangen Auflage.
In ihrem Versuch, die Gegenwart der Kunst auf ein Neues hin zu überschreiten, schreiben diese Kunstund
Ausstellungskonzeptionen de facto das zentrale Paradigma der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts
fort. Angesichts der Fokussierung auf Gegenwärtigkeit und Aktualität erscheinen diese Ausstellungspraktiken
selbst immer neu gegenwärtig und aktuell, und es wird leicht übersehen, dass das
ihnen zugrunde liegende Modell künstlerischen Wirkens selbst ein inzwischen historisches geworden
ist. Dezidiert zeitgenössische Kunstströmungen und Kunstausstellungen beziehen weiterhin ihre Legitimation
aus dem Bestreben, eine neue Position oder eine Neu-Positionierung im Feld der Kunst einzunehmen
und fordern damit ihre Wahrnehmbarkeit als neu einsetzende, punktuelle Ereignisse. Im Überblick
über ihren historischen Verlauf ergibt sich so das Bild von langen Straßen, die sich verzweigen und
kreuzen und an denen Gebäude und Monumente unterschiedlichster Formen und Gestalten aufgereiht
sind und in rascher Folge Neubauten entstehen.
Im Unterschied dazu bietet sich im Blick über die verschiedenen Ausstellungen der Experimentelle von
ihren Anfängen bis heute weniger das Bild einer Abfolge gesonderter und mehr oder weniger spektakulärer
Ereignisse – oder, um im Bild zu bleiben, ein Panorama von einzelnen Bauten oder Monumenten,
entlang breiter Straßenzüge und weiter Plätze – als vielmehr der eigenen Situierung im geografischen
Raum entsprechend, eine Art Landschaftsbild, das in gewisser Weise der Landschaft gleicht, aus der
diese Idee kommt. In ihrer ursprünglichen Ausprägung bleibt die Landschaft sich gleich, doch unterliegt
sie auch steter Veränderung und spürbarer Wandlung durch Naturereignisse und menschliche Eingriffe.
Zu den herausragenden charakteristischen Orientierungspunkten in diesem Landschaftsbild gehören
einige Künstler, die wie albertrichard Pfrieger, Uwe Lindau, Harald Häuser und Heinz Pelz, von den Anfängen
bis heute beteiligt sind. Zu ihnen gesellten sich Anfang der 1990er Jahre die beiden Maler Helmut
Sturm und Dieter Krieg, die der Experimentellen stets ihre Treue hielten, und die beide auch heute
noch, Jahre nach ihrem Tod, auf jeder Experimentellen vertreten sind. Um diesen Kern stets beteiligter
Künstler herum werden in wechselnder Zusammenstellung Werke weiterer renommierter sowie neu
auftretender jüngerer Künstler – oder wie es auf der Internetseite der Experimentelle so schön heißt:
„Jungartisten“ – gruppiert. Während die Namen einiger von ihnen nur einmalig oder episodisch im Teilnehmerfeld
der Experimentellen auftauchen, entwickeln sich andere wiederum zu vertrauten Konstanten
des sich wandelnden Landschaftsbildes.
Wer die hier häufiger vertretenen Künstler und ihre Werke von daher schon länger kennt, mag auf den
ersten Blick wenig aufregend Neues oder Überraschendes entdecken können. Man kann es auch von
anderer Seite sehen, worauf Albert Kümmel-Schnur im Katalog der letzten Experimentelle einging:
Auch aus der Betrachtung eines Neuen, aber ähnlich schon Gesehenen kann ein ganz eigenes Vergnügen
oder ein spezifischer Gewinn gezogen werden. Das Neue und Überraschende findet sich möglicherweise
eher in der Wandlung einer Eigenart, im Umgang mit Materialien, Motiven und Formen. Man kann auch staunen und sich überraschen lassen, von der mehr oder weniger strengen Kontinuität, mit der
einige Künstler ihre Themen verfolgen. Einige entwickeln sich vielleicht sprunghaft, andere vollführen
keine spektakulären Sprünge, sondern durchlaufen langsame Entwicklungen. Mit der Experimentellen
besteht ein Ort, an dem man in jedem zweiten Jahr die Gelegenheit hat, zu beobachten, wie Künstlerinnen
und Künstler sich mit ihren gewählten Fragen und Wirkungsabsichten über längere Zeiträume auseinandersetzen
und damit die Möglichkeit, diese Auseinandersetzung kontinuierlich nachzuverfolgen.
Daraus folgt als weiterer Aspekt, dass die wiederholte Präsentation derselben Künstler in aufeinanderfolgenden
Ausstellungen ihr je eigenes Verhältnis von Kontinuität und Wandel nachzuvollziehen
ermöglicht. Weiterhin kommt hinzu, dass die Werke derselben Künstler sich alle zwei Jahre an anderen
Orten oder in anderen Räumen und in anderer Nachbarschaft befinden. Sie werden in jeweils unterschiedliche
räumliche und künstlerische Kontexte gestellt, die ihre Wahrnehmung ebenso verändern
wie die der umgebenden Werke. Das gilt umso mehr, als die Ausstellungen der Experimentellen an
jedem der beteiligten Orte einen anderen Charakter haben. In Auswahl und Präsentation nehmen die
Ausstellungen die Eigenart und Atmosphäre der Örtlichkeiten und lokalen Gegebenheiten auf. Das
heißt, der erläuterten Grundhaltung der Experimentellen entsprechend, wird hier nicht mit einem einund
durchgängigen Konzept jedweder Ausstellungsraum bespielt, sondern jeder als Wirkungsstätte
eigener Art für die Kunstwerke zugänglich gemacht.
Unter den ausgewählten Künstlern befindet sich jedes Mal eine satte Anzahl von Malern und eine Reihe
von Bildhauern, hie und da gibt es Zeichnerisches oder Fotografisches. Die unterschiedlichen elektrifizierten
Medienkünste haben bisher keinen Eingang gefunden. Temporäre künstlerische Ausdrucksformen
wie Performances finden regelmäßig auf Einladung während der Experimentellen an verschiedenen
Ausstellungsorten statt. Allerdings scheinen die Verantwortlichen der Experimentellen einen
merklichen Abstand zu den unterschiedlichen Formen von Kunst zu halten, die den Ausstieg aus dem
Bild zugunsten einer vermeintlich stärkeren gesellschaftlichen Relevanz propagieren. Diese Bewegung
setzte ein mit dem Happening und der Performance, die in den 1960er Jahren herausfordernd die Bühne
der Kunst betraten und die sich seit den 1990er Jahren in immer wieder anderen Rollen kleidet – die
meisten davon mit dem Anspruch auf möglichst unmittelbares gesellschaftliches Wirken, von der Dienstleistungskunst
zur aktuellen Bewegung des Artivism, die dezidiert politische Aktion als Kunstform betreibt.
Der über das Kunstfeld hinauszielende Impuls hin zu unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz,
prägt zahlreiche der bestimmenden Richtungen neuerer Kunst, wie etwa die unterschiedlichen Formen
der partizipativen Kunst mit ihrem Anspruch, Laien und Publikum zu Mitgestaltern und Mitkünstlern zu
machen, sowie den boomenden Bereich der „Kunst als Forschung“, in dem die – spätestens mit Leonardo
evident gewordene – Fähigkeit der künstlerischen Exploration der Welt als eine völlig eigenständige
und spezifische Erkenntnismethode zum Ausgangspunkt eines Kunstkonzepts geworden ist, mit dem
seine Vertreter glauben, künstlerischem Tun unter zeitgenössischen Bedingungen neue Legitimation
zu verschaffen, sie aber gleichwohl – wie die anderen genannten Strömungen einer außer der Kunst,
ihrer Mittel und ureigenen Möglichkeiten liegenden Rationalität und Ökonomie unterwerfen.
Die Macher der Experimentelle haben immer festgehalten an künstlerischen Ausdrucksformen, die im
Kunstwerk oder im künstlerischen Ereignis selbst, in seiner ästhetischen Erscheinung, ihr Gravitationszentrum
behielten und darin sowohl ihre künstlerische als auch ihre gesellschaftliche Relevanz begründeten.
Das gilt auch für die unterschiedlichen Positionen konzeptioneller oder installativer Kunst. Von
diesen ist auf der Experimentelle nur wenig zu finden, wo aber eine vertreten ist oder war, wie in den
Werken von Felix Droese oder Axel Heil, weist diese jenen hintersinnig humorvollen und subversiv anarchischen Zug auf, der auch bei den prägenden Malern der Experimentelle zu finden ist und der schon
den Aktivisten der Künstlergruppen CoBrA und Spur eigen war, aus deren Kunstverständnis sich das
Konzept der Experimentellen substanziell seit den Anfängen gespeist hat.
Die Wesenszüge informeller Kunstströmungen, wie auch der Humor in der Kunst vieler der beteiligten
Künstler, zeichnen in ähnlicher Weise die Haltung der Veranstalter aus. Will heißen, hier herrscht
ein vollkommen undogmatisches und ideologiefreies Kunstverständnis, das keinem Besucher sein Programm
erläutern, seine Ansichten vermitteln oder seine Einstellungen aufdrängen will. Damit verbunden
ist, dass sich an jedem dieser Orte der familiäre Charakter dieser Ausstellungsreihe erhalten hat –
die einzelnen Ausstellungen werden in der Tat als Begegnungsstätten und Kommunikationsräume über
die Betrachtung der hier ausgestellten Kunst erlebbar.
All dies zusammen, die familiäre Atmosphäre, der informelle Charakter, die Entspanntheit und Lockerheit
auch im Umgang mit den Künstlern und mit ihrer Kunst selbst, verleiht der Experimentellen ihren
stets heiteren und sommerlichen Festcharakter.
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