Vom Stolpern ins Ungewisse auf dem Weg zur Kunst

von
Stefan Borchardt
 
      
In diesem Jahr hat die Experimentelle einmal mehr neues Terrain erobert. Sie wird nun außer in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch in Frankreich, im elsässischen Erstein ihre Zelte aufschlagen und damit eine weitere geographische Grenze überschreiten. Diese Ausweitung ihres Wirkungskreises bezeugt die Vitalität dieser Ausstellungsreihe, deren Konzeption wesentlich von den Vorstellungen künstlerischer Freiheit und Grenzüberschreitung getragen wird, wie sie sich im Rahmen informeller Kunstexperimente seit den fünfziger Jahren herausgebildet haben.
Wie die Experimentellen früherer Jahre präsentiert auch die diesjährige ein vielfältiges Spektrum an individuellen Ausdrucksformen der Gegenwartskunst. Die in der Ausstellung vorgestellten künstlerischen Positionen bewegen sich insofern auf vertrautem Gelände, als sie sich größtenteils in den Gebieten traditionell überlieferter Kunstgattungen – Zeichnung, Malerei, Bildhauerei und Plastik in ihren verschiedensten Ausformungen – bewegen. Mit seinem Konzept der Experimentellen und seiner Auswahl der Künstler vertraut Titus Koch auf die Vitalität und Widerständigkeit der klassischen Medien der bildenden Kunst und damit darauf, dass diese nicht durch die Erfindung neuer Bildtechniken und Medien obsolet werden, sondern etwas ihnen genuin Eigenständiges haben, das nicht durch Anderes ersetzbar ist; etwas das es ermöglicht, in der Auseinandersetzung mit ihnen neue, für Kunst und Gesellschaft relevante Erkenntnisse zu gewinnen und immer wieder anders geartete ästhetische Erfahrungen zu machen.
Die starke Präsenz von künstlerischen Positionen, in denen Unmittelbarkeit und Heftigkeit, kraftvolle Gesten und erregte Bildsprachen vorherrschen, bezeugt einmal mehr die Geburt der Experimentellen aus dem Geist der informellen Kunst. Die charakteristischen Eigenschaften von Direktheit, Dynamik und Bewegung erfährt der Betrachter gleichermaßen als formale Eigenschaft wie als emotionales Wirkungsmoment. Kontrapunktisch dazu finden sich bedächtigere Ausdrucksformen, konzeptionellere Herangehensweisen und subtilere künstlerische Handschriften. Da hier nur auf die Werke weniger Künstler eingegangen werden kann, sei von jedem Standort jeweils einer exemplarisch herausgegriffen.

Uwe Lindau gehört zu den Künstlern, die in ihren Werken anschaulich machen, in welch vielfältiger Weise sich die befreiende Kraft von Humor und Hintersinn mit dem existenziellen Ernst der Kunst verbinden kann. Die Malerei Lindaus ist voller Überschwang und Erregung, voller Intensität und Leidenschaft. Lustvoll triebhaft im Umgang mit seinen künstlerischen Medien, assoziativ und anspielungsreich in der Verwendung von Themen und Motiven, schafft Lindau Bildwelten von einer überbordenden Fülle, in der sich der Betrachter geradezu verlieren kann. Ein kalauerndes Wortspiel kann ebenso Anlass für ein Bild sein wie historische Ereignisse, literarische Zitate oder künstlerische Reminiszenzen. Doch hauptsächlich stürzt sich Lindau in seinen Bildern mitten hinein in das gesellschaftliche und politische Treiben der Zeit und kommentiert und kritisiert ihre Irrungen und Wirrungen. Dies aber nicht eindimensional oder plakativ, sondern komplex und vielschichtig.
Diese Vielschichtigkeit ist in malerischer Hinsicht zudem meist wörtlich zu verstehen. Die meisten von Lindaus Gemälden sind das Ergebnis intensiver Durcharbeitung, in der Zeichnerisches und Malerisches permanent ineinander übergehen. Charakteristisch für die Arbeitsweise von Lindau ist das Widerspiel von Kalkül und Spontaneität beim Malen des Bildes. Im Zuge seiner Verfertigung werden die motivischen Ideen in verschiedenen Farbaufträgen erprobt, wieder verändert, abgekratzt, erneuert, übermalt. Der Arbeitsprozess als Abfolge zeichnerischer und malerischer Versuche und Veränderungen bleibt auch im fertigen Bild unmittelbar präsent. Aus diesen Schichten scheinen die aufeinanderstoßenden Formen und Gestalten herauszuwachsen, um Präsenz zu ringen.
Lindaus Bildsprache ist ruppig und eruptiv, wirkt mitunter krude und grell. Seine Vorliebe für das Schräge und Skurrile bleibt nicht auf Randfiguren und die Nebengebiete des Ernstes begrenzt – er erkennt im Grotesken das geeignete Mittel auch den Gefilden bitteren Ernstes zu Leibe zu rücken. Lindaus umfassendes bildnerisches Werk entspringt einem gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein, einem Ethos, das aus jedem Bild spricht und an den Betrachter appelliert. Es handelt sich also bei Lindau um engagierte Kunst im doppelten Sinn: in der Hingabe an die Malerei und in ihrem Beitrag zur Aufklärung und Kritik der Gesellschaft.

Auch für die Malerei von Melanie Richter spielt die Durcharbeitung der Malschichten im Entstehungsprozess ihrer Bilder eine bedeutende Rolle. Für den größten Teil der Gemälde Richters ist charakteristisch, dass einzelne Gegenstände isoliert ins Bild gesetzt werden und beziehungslos für sich zu stehen scheinen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass diese Motive aus einem mehr oder weniger dunklen und farblich differenzierten Grund aufscheinen – ein Grund, der sich beim Betrachten bald suggestiv zum Raum verwandelt, in dem die Objekte zu stehen, schweben, schwimmen oder treiben scheinen, ein Moment, das häufig von den verwendeten leuchtenden Farben verstärkt wird. Der erste Eindruck dieser Malerei besteht oft in einem Schimmern und Oszillieren zwischen dem Leichten und dem Schweren, zwischen Gelassenheit und Anstrengung, zwischen dem Heiteren und dem Ernsten, dem Augenblicklichen und dem Beharrenden.
Das Prinzip der Isolierung des Gegenstandes lenkt den Blick des Betrachters auf die teilweise komplexe Vielfältigkeit der Dinge an sich. Zu sehen, wie hier aus einem Leuchterständer mehrere Arme herauswachsen und viele scheinbar gleiche Kerzen tragen, wie sich dort das anmutige und zugleich funktionale Formgebilde einer blühenden Blume entfaltet, wird durch die Transformation der Gegenstände in der malerischen Geste zum ästhetischen Erlebnis.
Die Eigenart dieser Malerei besteht in der steten Bewegung zwischen präziser Modellierung der Gegenstandsform und vollkommen freien, gestischen, ja manchmal informell wirkenden Farbaufträgen, so dass das Motiv auf Abstand gesehen illusionistische Wirkung erhält, von Nahem aber als gegenstandslose Farbform erscheint. Hier entsteht ein Kippeffekt zwischen der Wahrnehmung des Bildes als Darstellung eines erkennbaren Gegenstandes und den mit ihm verbundenen Bedeutungen und Assoziationen einerseits, sowie anderseits dem Betrachten des Bildes als reine Malerei. Und von hier aus zeigt sich auch ein Aspekt, der die von Richter gewählten Gegenstände – wie bestimmte Blumensorten, Kerzenleuchter, Spiegel – für dieses Prinzip besonders geeignet macht: Sie sind gemeinhin bekannt, in unseren Breiten allgemein gegenwärtig. Sie sind in ihrer Bedeutung nicht zu eng besetzt, sondern haben ein weites Bedeutungsspektrum, was sie nicht genau auf eine Botschaft festlegt. Aufgrund der Vertrautheit mit ihrem Dasein richtet sich alsbald die Aufmerksamkeit auf ihr bildhaftes Sosein.
Und damit kommt der andere wesentliche Teil des Bildes in den Blick: die Sichtbarkeit des Malprozesses. Richters Malweise besteht im wiederholten Überlagern, Verdecken und Freilegen von schon Gestaltetem. Die oberen Schichten werden teilweise wieder entfernt oder abgesprengt, damit in den darunterliegenden Verborgenes erneut und verwandelt zum Vorschein kommt. Das körperlich kraftvolle Arbeiten an den einzelnen Malschichten bleibt in der Oberfläche des fertigen Bildes durchdringend spürbar.

Bei Peter Casagrande wirkt ebenfalls die körperliche Energie, die während der Arbeit am Bild aufgebracht wird, im vollendeten Werk als vibrierende Kraft weiter. Mit übereinander gestrichenen, geworfenen und gespritzten Bahnen, Schlieren, Lachen und Tropfen aus mehr oder weniger transparenten, flüssigen oder pastosen Farben bedeckt er sukzessive den Malgrund, so dass sich die Wirkung eines ungegenständlichen Tiefenraumes einstellt, mit dem sich zugleich ein ebenso weiter Assoziationsraum für den Betrachter eröffnet.
Die derart entstandenen großformatigen Farbraumgebilde leben von der gestischen Wucht und dem heftigen Ansturm auf den Malgrund, der bei ihm daher als Energieträger bezeichnet werden kann – nicht nur metaphorisch, sondern im eigentlichen Sinn des Wortes.
Die meisten von Casagrandes Bildräumen sind auf einen Farbton gestimmt, der die Tiefe des vom Betrachter erlebbaren Bildraumes ebenso bestimmt wie seine Temperatur. Nicht nur in den Bildern, in denen Goldocker, braune und rote Farbtöne den Hauptakkord bilden, können die Stimmungen hochkochen, heiß und fiebrig aufwallen und sich ausbreiten, auch dort, wo unterschiedliche Skalen von Grautönen bis zu Schwarz und Weiß die Komposition dominieren, bleibt die Hitze unter der weißgrauen Glut weiter am Schwelen.
Das hitzige Strömen und Fließen, das diese Räume durchwaltet, scheint das Resultat plötzlicher Energieausbrüche und heftiger Eruptionen. Solche Heftigkeit, ein solch ausgreifender elan vital erfordert realen Raum, um sich auszubreiten, weshalb die Gemälde von Casagrande nicht selten monumentale Ausmaße haben. Dieses verstärkt denn auch den Eindruck, es hier mit einem bildnerischen Universum zu tun zu haben, mit malerischen Farbgalaxien, die im Moment des Betrachtens aus unbekannten Gründen aufzusteigen und sich grenzenlos auszubreiten scheinen.

Die Bildwerke von Jupp Linssen laden den Betrachter weniger zum Erleben imaginärer Tiefenräume ein, er schafft Bildkörper, die dem Betrachter mit ihrer physischen Präsenz viel mehr entgegen treten. Linssens Schaffensprozess ist stark von reaktiven Momenten geprägt. Er versucht nicht allein eine vorhandene Bildidee auf der Tabula Rasa einer unberührten Leinwand oder im leeren Raum umzusetzen, sondern vertraut sich in hohem Maße dem Anregungspotenzial vorgefundener Gegenstände und gebrauchter Materialien wie Holzlatten oder Zinkblechen an. Aus ihrer Kombination mit Leinwänden, Farbaufträgen und Linienformen entstehen Bilder, die stark von ihrem Objektcharakter und ihrer Materialanmutung leben. Das gilt für die Oberflächenreize der Patina, die sich aus der Verwendung der Zinkbleche ergeben ebenso wie für jene von verratzten Brettern und schrundigen Holzbalken. Die betont haptischen Qualitäten dieser Materialien sind wesentlich für die greifbare Sinnlichkeit der Bilder von Linssen. Vielfach, aber nicht durchgehend, werden in ihre Oberflächen zeichenhaft abstrakte oder gegenständliche Figurationen flächig mit Malfarbe aufgetragen oder wie Sgraffitos eingeritzt – Figuren, die ihre Genese häufig Anregungen verdankt, die der Künstler aus den Oberflächenstrukturen selbst empfängt und frei assoziierend weiterführt. Die Betonung plastischer Strukturen verfolgt Linssen auch im Umgang mit der Farbe. Er verwendet eine körperhafte Farbkonsistenz, die reliefhafte Farbaufträge ermöglicht. In den Tönungen der Malfarbe bleibt er zurückhaltend, verwendet neben Schwarz und Weiß fast nur Grautöne und gedeckte Erdfarben. Im unprätentiösen Materialcharakter und der ganz auf sich selbst bezogenen Bildwirkung klingt eine Verwandtschaft zur arte povera an. Das gilt auch für die Tendenz zur nichtfarbigen Monochromie, zu einer Enthaltsamkeit der Palette, die durchaus asketisch wirkt. Diese steht wiederum in einem antagonistischen Verhältnis zur Betonung der Körperlichkeit der Farbe. Mit dieser spannungsvollen Beziehung verstärkt Linssen das überaus sinnliche Eigenleben seiner Bildwerke.

Das Werk von Daniel Erfle kennzeichnet der Umgang mit dem von ihm ausschließlich verwendeten Material – Papier. Aus ursprünglich rechteckigen Bögen und Bahnen unterschiedlicher Dimensionen, Länge und Breite, die einzeln oder in mehreren Schichten übereinander gelegt, aus- und eingerissen, gebogen und gewunden, gestaltet er bildnerische Objekte, die flächig an der Wand angebracht oder in komplexe raumgreifende Installationen überführt werden.
Während er die Großform und ihren genauen Verlauf auf der Fläche oder im Raum selbst bestimmt, gibt er mit der Wahl des freihändigen Reißens als Methode, statt des exakten Schneidens mit Messer oder Schere, die Kontrolle über den Verlauf des Konturs der Bahnen auf und lässt Abweichungen zu, die sich aus den strukturellen Eigenschaften seines gewählten Materials ergeben. Je nach Größe der Objekte und Breite der verwendeten Papierbahnen wirken die daraus geformten Gestalten filigran und fragil oder massiv und monumental.
Indem die flache Form im Zuge des Reißens aufgeteilt und diese Teile in Fläche und Raum gespannt werden, verwandeln sich die Oberflächen in der Wahrnehmung des Betrachters zu Konturen und Binnenlinien, im Raum zu Innen- oder Außenseiten. Der leere Raum zwischen den einzelnen Papierbahnen wird ebenfalls transformiert: Ihre Entfaltung im Raum erzeugt ein anregendes Wechselspiel von optischen Rahmungen und Durchblicken. Verbunden mit der dominierenden Schwärze erhalten die geschwungenen und verbundenen Bahnen etwas Zeichenhaftes. Selbst die größeren Installationen wirken auf Entfernung gesehen oft wie Kalligraphien im Raum. In den Variationen des Liegens und Stehens, des Hängens und Schwebens, die er in seinen Plastiken und Installationen aus Papier durchspielt, macht Erfle das Spiel mit der allgegenwärtigen – aber meist nur unbewusst gespürten – Schwerkraft zum eigentlichen Gravitationsfeld seiner Arbeit.
Bei den großformatigen Objekten verleiht die schwarzgraue Farbe den Papierstreifen die Anmutung von Bleiplatten oder Asphaltbahnen, woraus sich – insbesondere bei jenen, die an Decke oder Wänden schwebend – eine spezifische Ambivalenz zwischen der mit Blei und Asphalt verbundenen Schwere und der mit dem Papier asoziierten Leichtigkeit ergibt.
Im Detail erweisen sich Erfles Transformationen der einfachen zweidimensionalen Ausgangsformen in dreidimensionale komplexe Gestalten als überaus findig. In vielen Fällen bleibt, wer sich der Frage nach der Ableitung dieser Gestalt aus ihrer Ausgangsform stellt und sie rückzuführen versucht, stocken, häufig gelingt sie überhaupt nicht. In dem für den Betrachter oft undurchschaubaren und kaum nachvollziehbaren Verlauf vieler Windungen und Verbindungen erweist sich der Papierreißer Erfle als ein gerissener Schöpfer, der seinen Kreationen etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles mitzugeben weiß.

Von allen hier vorgestellten Künstlern wirken die Plastiken von Stefan Hasslinger am nächsten dran an den künstlichen Paradiesen der Popkultur und der Konsumwelt der Gegenwart sowie ihren diversen Rezeptionsformen im aktuellen Kunstbetrieb. Ob Kühlergrill einer Luxuslimousine oder das Kleid von Lady Gaga, Hasslinger spielt mit der Umformatierung von allgegenwärtigen und bekannten Dingen, indem er sie auf den Kopf stellt, in andere Materialien überträgt oder auf unvorhersehbare Weise kombiniert. Seinen Bildfindungen liegt die Bereitschaft zugrunde zu erproben, ob ein Gegenstand oder ein Verfahren sich auch in anderer Weise als den gängigen und vertrauten verwenden und miteinander in Beziehung bringen lässt – ganz der für die Surrealisten maßgeblichen Devise des Comte de Lautréamont folgend, derzufolge Schönheit in der zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch liegt. So ergibt sich aus den zunächst überraschenden Kombinationen von Dingen unterschiedlicher Herkunft, Art und Form ein Übertragungseffekt, die gegenseitige Kontamination ihrer jeweiligen formalen und semantischen Bezugsfelder. Aus der vollkommen sinnfreien Zufallsbegegnung können so bezwingende Sinngebungen entstehen – oder mit den Worten von Max Ernst gesprochen: die stärksten poetischen Zündungen provozieren, und dies umso sicherer, je wesensfremder die Ausgangselemente und willkürlicher dieses Zusammentreffen erfolgt.
Schon von daher erstaunt es nicht, dass Hasslinger seine plastischen Objekte selbst gerne „Zünder“ nennt. Das Staunen über sie setzt aber spätestens ein, wenn man sieht in welcher Weise er seine Bildfindungen materiell und technisch zum Zünden bringt. Denn dazu verwendet er größtenteils ein Material das, ebenso wie die mit ihm verbundenen technischen Verfahren, zu den ältesten der Kunst überhaupt gehören, nämlich Keramik aus gebrannten Ton, die mit Glasuren überzogen wird. Auch mit den neuesten Modifikationen an den Ausgangsmaterialien und den heutigen technischen Verarbeitungsmöglichkeiten stellt dieses Verfahren immer noch höchste Ansprüche an die handwerkliche Realisierung der bildnerischen Vorstellungen. Diese reizt Hasslinger mit seinen einerseits in der Gesamtform oft großformatigen und im Detail sehr filigranen Durchgestaltungen bis an ihre Grenzen aus und schlägt in dieser Verbindung von künstlerischer Tradition und Tagesaktualität wiederum neue Funken.

Die hier vorgestellten künstlerischen Positionen entsprechen dem zu Beginn erwähnten Selbstverständnis der Experimentellen dahingehend, dass die Werke aus einer kontinuierlichen Praxis hervorgehen, die Räume für Neues und Überraschendes eröffnet, indem im Schaffensprozess die willentliche Steuerung zeitweise ausgesetzt wird. Die Hingabe an die Erregung der Sinne oder des Geistes durch plötzlich auftretende innere oder äußere Anstöße geht als Impuls unmittelbar in den Akt der Gestaltung ein.

Solche Schaffensprinzipien verbinden sich mit einer Auffassung von Experiment, die weder an den strengen Verfahren wissenschaftlicher Experimente orientiert ist, noch unmittelbar auf jene radikale Andersartigkeit und Neuheit im Sinne des avantgardistischen Kunstverständnisses zielt, das weiterhin den zeitgenössischen Kunstbetrieb dominiert und auf den vorangegangenen Seiten erläutert worden ist.
Der englische Kulturphilosoph John Ruskin beschrieb diese Auffassung am Beispiel eines Handwerkers, der den ihn wohlbekannten und eingeübten Tätigkeiten nachgeht, sie aber nicht von Werkstück zu Werkstück mechanisch wiederholt, sondern aus der bestätigenden Erfahrung des Gelingens seines bisherigen Tuns bereit ist, für einen Moment oder längere Phasen, die Kontrolle über den Arbeitsprozess aufzugeben. Dieser Bereitschaft, Fehler, unbrauchbare Teile oder das vollständige Misslingen zu riskieren, liegt die Zuversicht zugrunde, dass die resultierenden Schwierigkeiten und Hindernisse einen Raum für Entdeckungen und neue Sichtweisen eröffnen. Komplementär zu den heroischen und revolutionären Gesten der Avantgarden vertraut diese Art des künstlerischen Experimentierens auf die erneuernde und Erkenntnis stiftende Erfahrung des Stockens und sieht im Stolpern den ersten Schritt im Aufbruch zur Eroberung neuen Geländes.
In diesem Zusammenhang lohnt sich noch einmal der genaue Blick auf die Unterscheidung zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Experimenten. Zwar gilt, wie immer wieder betont wird, dass in der Wissenschaft die Versuchsanordnung exakt beschrieben und der Fortgang eines Experiments vollständig kontrolliert sein müssen, um valide Ergebnisse vorweisen zu können. Das heißt aber nicht, dass sie ihre Erkenntnisse ausschließlich solchen Versuchen verdankt. Im Gegenteil, bemerkenswert häufig werden diese, ebenso wie die künstlerischen, aus handwerklichen Versehen, unkontrollierten Zufällen und irrationalen Zuständen gewonnen – wie etwa die Entdeckung der Penicilline durch Alexander Fleming, oder die Entdeckung der hexagonalen Struktur von Kohlenwasserstoffen durch August Kekulé.
Die Erkenntnis selbst resultiert also aus einem im Arbeitsprozess unvorhergesehenen Ereignis. Wissenschaftliche Anerkennung erhält sie aber erst mit der nachträglichen Einfügung in die Versuchsbeschreibung, die den Erkenntnissprung nachvollziehbar und wiederholbar macht sowie die Verbreitung und praktische Anwendung der Erkenntnisse sichert – der von Albert Kümmel-Schnur beschriebenen Probe.

Die Probe der Ergebnisse künstlerischer Experimente erfolgt in völlig anderer Weise im Moment des Zeigens. Dabei gelten für die Probe durch den Betrachter dieselben Bedingungen wie für den Künstler. Genauso individuell und einzigartig ein künstlerisches Experiment in seiner Entstehung auf Seiten seines oder seiner Schöpfer sein kann – und es im besten Fall auch ist –, genauso ermöglicht es dem einzelnen Betrachter, der bereit ist, sich auf dieses Experiment einzulassen, radikal individuell darauf zu reagieren. Damit hängt die Probe im Einzelnen vom Zusammentreffen zweier vollkommen kontingenter Elemente in der Versuchsanordnung ab. Will heißen: sollte die Probe zu dem Urteil kommen, dass hier ein Experiment gescheitert ist, ließe sich nicht zweifelsfrei objektiv feststellen, auf welcher Seite das Scheitern zu verorten wäre. Ebenso ließe sich demgemäß für den Fall, dass in dieser Konstellation das Experiment als gelungen erachtet würde, nicht generell und allgemein beweisen, worin denn dieses Gelingen genau besteht. Es wäre wohl schon viel, wenn es darin bestünde, persönliche Erkenntnisse zu befördern, oder schlicht ein ästhetisches Vergnügen.

Weiteres zur Experimentellen 18

Aktuelle Informationen zur EXPERIMENTELLEN 18 
Vom Experiment zur Experimentellen. Eine Reise mit Rückfahrkarte. Von Albert Kümmel-Schnur
Vom Stolpern ins Ungewisse auf dem Weg zur Kunst, von Stefan Borchardt
Grußwort von Peter Friedrich, Minister für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten
Vernissage der EXPERIMENTELLEN 18 am 28.06.2014 in Randegg (D)
Rundgang Schloss Randegg, Deutschland 
Rundgang Amstetten, Österreich
Teilnehmende Künstler / Katalog