|
"Hey, amigo, if ever somethin' don't feel right to you, remember what Pancho said to the Cisco kid:
'Let's went before we're dancin' at the end of a rope without music.'" (Sailor Ripley in: Wild at
Heart, USA 1990)
"Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite."
(Karl Valentin)
Das Experiment
Versuch, Beweis, Prüfung oder Probe sind, so meinen die Lexika, mögliche Übersetzungen für das
lateinische Wort experimentum. Das bedeutet also, zunächst und allenfalls nebenher bemerkt, dass
wir nur bis zur römischen Antike zurückkommen, wenn wir nach Wurzeln suchen. Stellen wir also
das etymologische Angebot auf die Probe: jede Übersetzung verschiebt die Bedeutung. Versuch -
das klingt nach Irrtum. Versuchen wir's mal miteinander, Schätzchen? Lass es uns noch einmal
versuchen, Schatz! Beweis hört sich strenger an: das experimentum crucis ist dasjenige Experiment,
das alle Zweifel zum Schweigen bringt. (Falls es gelingt. Wenn nicht … und ganz abgesehen von
der Frage, ob es ein solches Experiment überhaupt geben kann.) Prüfung - da weiß einer was und
der andere muss dieses Wissen erst belegen. Kein neues Wissen also. Und Probe? Eine Probe auf's
Exempel zu machen, heißt, eine Theorie in der Praxis ausprobieren. Es scheint noch eine zweite
Bedeutung zu geben: Alchimisten machten Proben auf's Exempel. Sie probierten das Ergebnis eines
Versuchs ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass es nicht singulär, zufällig eingetreten war.
Empirische Testbarkeit und Reproduzierbarkeit zählen bis heute zu den zentralen Kriterien des
naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs.
Denkbar weit ist also das semantische Feld des Begriffs Experiment aufgespannt. Es reicht vom
ganz unsystematischen Herumstochern im Unbekannten über lückenlose Ursache-Wirkungsketten
bis zum Tauschverhältnis zwischen Theorie und Praxis. Allen Bedeutungen gemeinsam ist jedoch
die Zielgerichtetheit des Experimentierens: es soll etwas dabei herauskommen - ein gangbarer Weg,
das Wissen über die Richtigkeit einer Annahme oder die Praxisrelevanz einer These. Das künstlerische Experiment scheint gerade auf dieses Telos verzichten zu wollen und zu können: ihm
geht es um das Neue. Das Neue als Praxis. Zu experimentieren heißt: nicht zu wissen, unbedingt
und immer neu, innovativ, buchstäblich unvorhergesehen zu sein.
Experiment, so gesehen, beinhaltet also anderes, als das lateinische Wörterbuch hergibt: ihm ist eine
enge Bindung an das Regellose bzw. Noch-nicht-Regelgeleitete eigen sowie eine Beziehung zum
Risiko: die Möglichkeit des Scheiterns ist von vornherein im so begriffenen Experiment
vorgesehen. Daraus ergibt sich die Forderung nach andauernder Revolte: das Neue von heute ist das
Schon-Gewusste, das Alte und deshalb Abzulehnende von morgen. An ihrer Fähigkeit zum auf
Dauer gestellten Systemsturz bemessen wir die Qualität von Kunst. Das haben wir noch nie
gesehen.
Dieser Zwang zur dauernden Umwertung aller Werte birgt ein kryptotheologisches Element:
künstlerische Praxis ähnelt epistemologisch dem religiösen Wunder. Wunder sind kat'exochen
regelwidrig, singulär, nicht wiederholbar, nicht einzufordern. Wunder sind Gnadengaben. In der
Kunst heißt das: Inspiration. Der Geist kommt über sie. Unvorhersehbar. Er weht, wann er will.
Das künstlerische Experiment wäre also das exakte Gegenteil des wissenschaftlichen: es ist nicht
auf Reproduzierbarkeit, sondern auf Einmaligkeit aus, auf Serien von Singularitäten. Der größte
Künstler, die bedeutendste Künstlerin wäre also, wer es verstünde die Ausnahme auf Dauer zu
stellen. "Souverän ist", so lehrt Carl Schmitt, "wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Kunst
wäre also der dauernde Ausnahmezustand. Also auch wiederum: Normalität, eine neue Norm, ein
neuer Alltag. Die Produktion des Nicht-Alltäglichen als Alltag künstlerischer Produktion.
Eine so anspruchsvolle Praxis benötigt einen Rahmen. Hans-Jörg Rheinberger nennt den
Bezugsrahmen naturwissenschaftlichen Beweisens ein "Experimentalsystem". Ein solches System
ist die Bühne - so hat es der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour einmal formuliert
-, auf der die Experimentalobjekte auftreten können. Die Bühnenmetapher trägt: der
Experimentaltisch ist der Bühnenboden, die zum Einsatz kommenden Behälter formen das
Bühnenbild, wirksame Ingredienzien und die Experimentatoren sind die Mitspieler und auch die
Zuschauenden, die technischen Medien stellen die Theatermaschinerie dar - Donner und
Wasserfälle, Blitze und plötzliche Versenkungen -, das Protokollbuch ist das Regiebuch, der
Theaterbau die Institution - ein Forschungsinstitut, eine Universität -, usw. Die entscheidende
Pointe dieses Vergleichs stellt nun aber die Bedingung der Möglichkeit dar, dem
Experimentalobjekt überhaupt eine Chance zu geben, sich zu zeigen. Ohne diese Bühne, um es deutlich zu sagen, erscheint das Experimentalobjekt gar nicht. Es ist einfach nicht zu sehen. Peter
Brook hat in seinen Überlegungen zum leeren Raum vermutet, dass Theater genau dann stattfindet,
wenn ein Mensch durch einen Raum geht und ein zweiter ihm dabei zusieht. Vom Theater zurück
ins Labor bedeutet das, dass das Ereignis 'Experiment' von drei Komponenten abhängt: einem
Raum, einem Akteur und einem Beobachter. Vielleicht müsste man für's Labor noch den
Beobachter mit Schreibblock und Stift aufstatten, das Beobachtete aufzuzeichnen. Um zu
definieren, was die notwendigen Bedingungen der Durchführung eines Experiments angeht, mag
das ausreichen. Hinreichend sind diese Bedingungen nicht: das Experiment wäre leer. Für das
Theater bedeutet das: nichts. Für das Labor bedeutet das: alles. Im Theater bleibt die schiere,
phatische Präsenz, ein leerer, aber eben doch spannungsgeladener Raum, der aus der notwendig
kommunikativen Situation zwischen Akteur und Beobachter entsteht. Ein Milchsäurebakterium
oder das Higgs-Bosom zeigen sich aber nicht einfach. Sie können nicht mal eben so zu
beobachtbaren Akteuren werden: man kennt sie vor dem Experiment ja gar nicht. Sie haben keinen
Namen und keine Adresse. Sie sind buchstäblich Herbert G. Wells' unsichtbarer Mann: erst
Kleidung macht das Phantom sichtbar. Diese Kleidung sind im Labor alle Handlungen, die soziale,
technische und semiotische Akteure miteinander verketten. Der Faden dieser Kette ist eben das, was
Rheinberger ein Experimentalsystem genannt hat: die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung
bekannter und unbekannter Akteure.
Die Kunst
Kann der Begriff "Experimentalsystem" im eben beschriebenen Sinne auch für eine Beschreibung
künstlerischer Verfahren sinnvoll sein? Könnte man auch das Kunstwerk als Experimentalobjekt
beschreiben, das erst im Rahmen eines solchen Gestells aus Handlungen, Vorschriften, Menschen
und Dingen überhaupt ins Leben kommt. Sich zeigt?
Eine präzise, aber einfache Antwort lautete auf einen Eigennamen und eine Jahreszahl: Marcel
Duchamp, 1917. Mit dem Fountain betitelten umgedrehten Urinal gelang ihm der Nachweis des
hohen epistemologischen Drucks, den das Museum auf jedes Objekt ausübt, das es aufnimmt.
Andere Arbeiten nahmen spielerisch und kritisch Verfahren und Objekte der technischen Welt und
Wissenschaft selbst auf, ließen sich von ihnen inspirieren, wandelten sie um, ja, machten die Kunst
selbst zum Experiment.
Doch, wie gesagt, die Antwort ist einfach. Zu einfach oder einfach viel zu kurz. Die Fontäne
operiert ja zunächst am indexikalischen, semantischen und funktionalen Potenial des Urinals: es
sieht aus wie ein abstrahierter Brunnen mit Wasserstrahl, das Fließen oder Spritzen von Wasser und Urin verknüpfen sich zu einer witzigen Pointe und die Funktion des Aufnahmebehälters für Abwasser wird zum Synonym des Speicherorts Museum - alles Müll. Nicht einmal die allzu erwartbare Publikumsreaktion ist überraschend genug, um Experiment genannt zu werden. Das Expriment ist längst beendet, wenn das mit "R. Mutt" signierte Urinal im Museum ausgestellt wird.
Auch das natur- oder ingenieurswissenschaftliche Experiment ist ja längst vorbei, wenn die aus ihm
resultierenden Forschungsergebnisse publiziert werden. Der veröffentlichte Text hat alle Spuren
seiner Herstellung getilgt, insbesondere alles, was die finale These nicht stützt: die Meßfehler, die
Abweichungen vom Idealverlauf der Kurve, der Ausfall von Instrumenten, das Versagen von
Doktoranden, die Karrierebesessenheit des Professors, die deadlines der Journale, den Erfolgsbedarf
des Rektorats, die Budgetkürzungen durch das zuständige Ministerium und die Liebesaffären der
studentischen Hilfskraft. Keine dieser Bedingungen, von denen doch der Erfolg des Experiments
stark abhängt - die liebeskranke Studentin hat die Reagenzgläser schlurig gesäubert, das Rektorat
muss eine Erfolgsmeldung unbedingt bei einer Pressekonferenz in der nächsten Woche
herausgeben, obwohl das Experiment doch noch mindestens drei Wochen für die korrekte
Durchführung benötigt hätte -, sind im Aufsatz sichtbar. Sie werden systematisch zum
Verschwinden gebracht. Mit Bruno Latour könnte man diese Praxis "Blackboxing" nennen: an die
Stelle eines Kollektivs aus Personen, Zeichen und Dingen tritt eine schwarze Kiste, eine blackbox,
in die man nicht hineingucken kann oder sollte.
Wenn nun jemand wie Duchamp die Blackbox der Wissenschaft öffnet, ihre Bedingtheiten, ihre
kontingenten Normen, ihren fantasmatischen Überschuss sichtbar macht, dann ist das nur möglich
mittels des Blackboxing der eigenen Praktiken. (Und, der Kunstwissenschaft ins Stammbuch
geschrieben, bloße Selbstreflexivität unterläuft diese Praxis eben nicht - auch sie muss ja erst
hergestellt werden.) Das Experiment war schon.
Ein anderes freilich wird erst nach dem Abschluss der Versuchsreihen möglich: das Experiment mit
dem Publikum. Von existentiellen Fragen wie 'Kommt das an?', 'Kann ich das verkaufen?' über
solche der Eitelkeit wie 'Habe ich Kritiker X und Journalistin Y beeindruckt, schockiert,
gebauchpinselt?' bis zu den großen Themen wie 'Habe ich die Kunst weitergebracht?' 'Ist das
wirklich gut?' 'Ist Provokation noch möglich?'. Von Blackbox zu Blackbox.
Die Experimentelle
Es gab eine Zeit - und vielleicht dauert sie noch an -, da waren Experiment und Kunst austauschbare Begriffe. Was immer Kunst sein wollte, musste gleichzeitig auch Experiment sein. Nur als
Experiment war künstlerische Praxis legitimiert. Das galt auch umgekehrt: Kunst war das
Experimentelle schlechthin. Nicht irgendein Experiment, um diese oder jene Hypothese zu
beweisen oder zu widerlegen. Kunst definierte sich - und tut es noch - über den Anspruch,
dauerndes Experiment zu sein. Eine Ausstellung, die sich 'Experimentelle' nennt, nimmt diesen
Anspruch auf und ernst. Es bieten sich mehrere Möglichkeiten an, dieses Statement zu verstehen.
Experimentell, das könnte ein puristischer Avantgardeanspruch sein: il faut être absolumment
moderne. Immer. Jederzeit. Ausnahmslos. Eine Maxime der dauernden Selbstüberforderung, die seit
Ende des 19. Jahrhunderts zum Teil des Kunstdiskurses wurde. Diese Position übernimmt die
Experimentelle ganz offensichtlich nicht: ihre Materialien bleiben die klassischen der bildenden
Kunst. Keine information art, keine Medienkunst, keine bio art, ja, nicht einmal eine der ihrerseits
schon traditionellen Zeitkünste - kein Film, keine Performance, kein living theatre.
Stattdessen: Gemälde und Skulpturen in, wie mein Vorgänger, Andreas Gabelmann, für die 17.
Experimentelle gezeigt hat, der Formensprache des Informel mit einem gleichbleibenden
KünstlerInnenstamm, der immer ergänzt oder variiert wird, an verschiedenen Ausstellungsorten in
Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. Damit kommt man nicht in die
Hochglanzmagazine der internationalen Kunstschickeria. Kein Starkino, sondern Ensembletheater.
Keine Revolutionen, sondern kleine Differenzen.
Aber, quod erat demonstradum, ein vorbildlich konstruiertes Experimentalsystem. Seine Versuche zielen nicht auf die großen Paradigmenwechsel. Sie differenzieren vielmehr eine Formensprache immer kleinteiliger, immer genauer aus. Und wer sich darauf einlässt, wird sicherlich jedes Mal überrascht werden. Gleichzeitig ist die Experimentelle natürlich auch und entgegen allem Anschein eine soziale Plastik, Kunst, die sich eben gerade nicht formalästhetisch definiert, sondern über ihre Macht gesellschaftliche Räume zu gestalten und zu verändern. Und vor Augen zu führen.
Vielleicht kann man sagen, dass das eigentliche Kunstwerk der Experimentellen der multinationale
Kulturraum des erweiterten Bodensees darstellt. Eine echte Alternative zu Radwandern, Skifahren,
Mainaublick und Bürgertröpfle. Oder ein Gegengewicht, ganz wie man's nimmt. |
|