Vom Experiment zur Experimentellen. Eine Reise mit Rückfahrkarte.

von
Albert Kümmel-Schnur
 
      
"Hey, amigo, if ever somethin' don't feel right to you, remember what Pancho said to the Cisco kid: 'Let's went before we're dancin' at the end of a rope without music.'" (Sailor Ripley in: Wild at Heart, USA 1990)

"Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite."
(Karl Valentin)

Das Experiment
Versuch, Beweis, Prüfung oder Probe sind, so meinen die Lexika, mögliche Übersetzungen für das lateinische Wort experimentum. Das bedeutet also, zunächst und allenfalls nebenher bemerkt, dass wir nur bis zur römischen Antike zurückkommen, wenn wir nach Wurzeln suchen. Stellen wir also das etymologische Angebot auf die Probe: jede Übersetzung verschiebt die Bedeutung. Versuch - das klingt nach Irrtum. Versuchen wir's mal miteinander, Schätzchen? Lass es uns noch einmal versuchen, Schatz! Beweis hört sich strenger an: das experimentum crucis ist dasjenige Experiment, das alle Zweifel zum Schweigen bringt. (Falls es gelingt. Wenn nicht … und ganz abgesehen von der Frage, ob es ein solches Experiment überhaupt geben kann.) Prüfung - da weiß einer was und der andere muss dieses Wissen erst belegen. Kein neues Wissen also. Und Probe? Eine Probe auf's Exempel zu machen, heißt, eine Theorie in der Praxis ausprobieren. Es scheint noch eine zweite Bedeutung zu geben: Alchimisten machten Proben auf's Exempel. Sie probierten das Ergebnis eines Versuchs ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass es nicht singulär, zufällig eingetreten war. Empirische Testbarkeit und Reproduzierbarkeit zählen bis heute zu den zentralen Kriterien des naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs.

Denkbar weit ist also das semantische Feld des Begriffs Experiment aufgespannt. Es reicht vom ganz unsystematischen Herumstochern im Unbekannten über lückenlose Ursache-Wirkungsketten bis zum Tauschverhältnis zwischen Theorie und Praxis. Allen Bedeutungen gemeinsam ist jedoch die Zielgerichtetheit des Experimentierens: es soll etwas dabei herauskommen - ein gangbarer Weg, das Wissen über die Richtigkeit einer Annahme oder die Praxisrelevanz einer These. Das künstlerische Experiment scheint gerade auf dieses Telos verzichten zu wollen und zu können: ihm geht es um das Neue. Das Neue als Praxis. Zu experimentieren heißt: nicht zu wissen, unbedingt und immer neu, innovativ, buchstäblich unvorhergesehen zu sein.

Experiment, so gesehen, beinhaltet also anderes, als das lateinische Wörterbuch hergibt: ihm ist eine enge Bindung an das Regellose bzw. Noch-nicht-Regelgeleitete eigen sowie eine Beziehung zum Risiko: die Möglichkeit des Scheiterns ist von vornherein im so begriffenen Experiment vorgesehen. Daraus ergibt sich die Forderung nach andauernder Revolte: das Neue von heute ist das Schon-Gewusste, das Alte und deshalb Abzulehnende von morgen. An ihrer Fähigkeit zum auf Dauer gestellten Systemsturz bemessen wir die Qualität von Kunst. Das haben wir noch nie gesehen.

Dieser Zwang zur dauernden Umwertung aller Werte birgt ein kryptotheologisches Element: künstlerische Praxis ähnelt epistemologisch dem religiösen Wunder. Wunder sind kat'exochen regelwidrig, singulär, nicht wiederholbar, nicht einzufordern. Wunder sind Gnadengaben. In der Kunst heißt das: Inspiration. Der Geist kommt über sie. Unvorhersehbar. Er weht, wann er will.

Das künstlerische Experiment wäre also das exakte Gegenteil des wissenschaftlichen: es ist nicht auf Reproduzierbarkeit, sondern auf Einmaligkeit aus, auf Serien von Singularitäten. Der größte Künstler, die bedeutendste Künstlerin wäre also, wer es verstünde die Ausnahme auf Dauer zu stellen. "Souverän ist", so lehrt Carl Schmitt, "wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Kunst wäre also der dauernde Ausnahmezustand. Also auch wiederum: Normalität, eine neue Norm, ein neuer Alltag. Die Produktion des Nicht-Alltäglichen als Alltag künstlerischer Produktion.

Eine so anspruchsvolle Praxis benötigt einen Rahmen. Hans-Jörg Rheinberger nennt den Bezugsrahmen naturwissenschaftlichen Beweisens ein "Experimentalsystem". Ein solches System ist die Bühne - so hat es der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour einmal formuliert -, auf der die Experimentalobjekte auftreten können. Die Bühnenmetapher trägt: der Experimentaltisch ist der Bühnenboden, die zum Einsatz kommenden Behälter formen das Bühnenbild, wirksame Ingredienzien und die Experimentatoren sind die Mitspieler und auch die Zuschauenden, die technischen Medien stellen die Theatermaschinerie dar - Donner und Wasserfälle, Blitze und plötzliche Versenkungen -, das Protokollbuch ist das Regiebuch, der Theaterbau die Institution - ein Forschungsinstitut, eine Universität -, usw. Die entscheidende Pointe dieses Vergleichs stellt nun aber die Bedingung der Möglichkeit dar, dem Experimentalobjekt überhaupt eine Chance zu geben, sich zu zeigen. Ohne diese Bühne, um es deutlich zu sagen, erscheint das Experimentalobjekt gar nicht. Es ist einfach nicht zu sehen. Peter Brook hat in seinen Überlegungen zum leeren Raum vermutet, dass Theater genau dann stattfindet, wenn ein Mensch durch einen Raum geht und ein zweiter ihm dabei zusieht. Vom Theater zurück ins Labor bedeutet das, dass das Ereignis 'Experiment' von drei Komponenten abhängt: einem Raum, einem Akteur und einem Beobachter. Vielleicht müsste man für's Labor noch den Beobachter mit Schreibblock und Stift aufstatten, das Beobachtete aufzuzeichnen. Um zu definieren, was die notwendigen Bedingungen der Durchführung eines Experiments angeht, mag das ausreichen. Hinreichend sind diese Bedingungen nicht: das Experiment wäre leer. Für das Theater bedeutet das: nichts. Für das Labor bedeutet das: alles. Im Theater bleibt die schiere, phatische Präsenz, ein leerer, aber eben doch spannungsgeladener Raum, der aus der notwendig kommunikativen Situation zwischen Akteur und Beobachter entsteht. Ein Milchsäurebakterium oder das Higgs-Bosom zeigen sich aber nicht einfach. Sie können nicht mal eben so zu beobachtbaren Akteuren werden: man kennt sie vor dem Experiment ja gar nicht. Sie haben keinen Namen und keine Adresse. Sie sind buchstäblich Herbert G. Wells' unsichtbarer Mann: erst Kleidung macht das Phantom sichtbar. Diese Kleidung sind im Labor alle Handlungen, die soziale, technische und semiotische Akteure miteinander verketten. Der Faden dieser Kette ist eben das, was Rheinberger ein Experimentalsystem genannt hat: die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung bekannter und unbekannter Akteure.

Die Kunst
Kann der Begriff "Experimentalsystem" im eben beschriebenen Sinne auch für eine Beschreibung künstlerischer Verfahren sinnvoll sein? Könnte man auch das Kunstwerk als Experimentalobjekt beschreiben, das erst im Rahmen eines solchen Gestells aus Handlungen, Vorschriften, Menschen und Dingen überhaupt ins Leben kommt. Sich zeigt?

Eine präzise, aber einfache Antwort lautete auf einen Eigennamen und eine Jahreszahl: Marcel Duchamp, 1917. Mit dem Fountain betitelten umgedrehten Urinal gelang ihm der Nachweis des hohen epistemologischen Drucks, den das Museum auf jedes Objekt ausübt, das es aufnimmt. Andere Arbeiten nahmen spielerisch und kritisch Verfahren und Objekte der technischen Welt und Wissenschaft selbst auf, ließen sich von ihnen inspirieren, wandelten sie um, ja, machten die Kunst selbst zum Experiment.

Doch, wie gesagt, die Antwort ist einfach. Zu einfach oder einfach viel zu kurz. Die Fontäne operiert ja zunächst am indexikalischen, semantischen und funktionalen Potenial des Urinals: es sieht aus wie ein abstrahierter Brunnen mit Wasserstrahl, das Fließen oder Spritzen von Wasser und Urin verknüpfen sich zu einer witzigen Pointe und die Funktion des Aufnahmebehälters für Abwasser wird zum Synonym des Speicherorts Museum - alles Müll. Nicht einmal die allzu erwartbare Publikumsreaktion ist überraschend genug, um Experiment genannt zu werden. Das Expriment ist längst beendet, wenn das mit "R. Mutt" signierte Urinal im Museum ausgestellt wird.

Auch das natur- oder ingenieurswissenschaftliche Experiment ist ja längst vorbei, wenn die aus ihm resultierenden Forschungsergebnisse publiziert werden. Der veröffentlichte Text hat alle Spuren seiner Herstellung getilgt, insbesondere alles, was die finale These nicht stützt: die Meßfehler, die Abweichungen vom Idealverlauf der Kurve, der Ausfall von Instrumenten, das Versagen von Doktoranden, die Karrierebesessenheit des Professors, die deadlines der Journale, den Erfolgsbedarf des Rektorats, die Budgetkürzungen durch das zuständige Ministerium und die Liebesaffären der studentischen Hilfskraft. Keine dieser Bedingungen, von denen doch der Erfolg des Experiments stark abhängt - die liebeskranke Studentin hat die Reagenzgläser schlurig gesäubert, das Rektorat muss eine Erfolgsmeldung unbedingt bei einer Pressekonferenz in der nächsten Woche herausgeben, obwohl das Experiment doch noch mindestens drei Wochen für die korrekte Durchführung benötigt hätte -, sind im Aufsatz sichtbar. Sie werden systematisch zum Verschwinden gebracht. Mit Bruno Latour könnte man diese Praxis "Blackboxing" nennen: an die Stelle eines Kollektivs aus Personen, Zeichen und Dingen tritt eine schwarze Kiste, eine blackbox, in die man nicht hineingucken kann oder sollte.

Wenn nun jemand wie Duchamp die Blackbox der Wissenschaft öffnet, ihre Bedingtheiten, ihre kontingenten Normen, ihren fantasmatischen Überschuss sichtbar macht, dann ist das nur möglich mittels des Blackboxing der eigenen Praktiken. (Und, der Kunstwissenschaft ins Stammbuch geschrieben, bloße Selbstreflexivität unterläuft diese Praxis eben nicht - auch sie muss ja erst hergestellt werden.) Das Experiment war schon.

Ein anderes freilich wird erst nach dem Abschluss der Versuchsreihen möglich: das Experiment mit dem Publikum. Von existentiellen Fragen wie 'Kommt das an?', 'Kann ich das verkaufen?' über solche der Eitelkeit wie 'Habe ich Kritiker X und Journalistin Y beeindruckt, schockiert, gebauchpinselt?' bis zu den großen Themen wie 'Habe ich die Kunst weitergebracht?' 'Ist das wirklich gut?' 'Ist Provokation noch möglich?'. Von Blackbox zu Blackbox.

Die Experimentelle Es gab eine Zeit - und vielleicht dauert sie noch an -, da waren Experiment und Kunst austauschbare Begriffe. Was immer Kunst sein wollte, musste gleichzeitig auch Experiment sein. Nur als Experiment war künstlerische Praxis legitimiert. Das galt auch umgekehrt: Kunst war das Experimentelle schlechthin. Nicht irgendein Experiment, um diese oder jene Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen. Kunst definierte sich - und tut es noch - über den Anspruch, dauerndes Experiment zu sein. Eine Ausstellung, die sich 'Experimentelle' nennt, nimmt diesen Anspruch auf und ernst. Es bieten sich mehrere Möglichkeiten an, dieses Statement zu verstehen.

Experimentell, das könnte ein puristischer Avantgardeanspruch sein: il faut être absolumment moderne. Immer. Jederzeit. Ausnahmslos. Eine Maxime der dauernden Selbstüberforderung, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Teil des Kunstdiskurses wurde. Diese Position übernimmt die Experimentelle ganz offensichtlich nicht: ihre Materialien bleiben die klassischen der bildenden Kunst. Keine information art, keine Medienkunst, keine bio art, ja, nicht einmal eine der ihrerseits schon traditionellen Zeitkünste - kein Film, keine Performance, kein living theatre.

Stattdessen: Gemälde und Skulpturen in, wie mein Vorgänger, Andreas Gabelmann, für die 17. Experimentelle gezeigt hat, der Formensprache des Informel mit einem gleichbleibenden KünstlerInnenstamm, der immer ergänzt oder variiert wird, an verschiedenen Ausstellungsorten in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. Damit kommt man nicht in die Hochglanzmagazine der internationalen Kunstschickeria. Kein Starkino, sondern Ensembletheater. Keine Revolutionen, sondern kleine Differenzen.

Aber, quod erat demonstradum, ein vorbildlich konstruiertes Experimentalsystem. Seine Versuche zielen nicht auf die großen Paradigmenwechsel. Sie differenzieren vielmehr eine Formensprache immer kleinteiliger, immer genauer aus. Und wer sich darauf einlässt, wird sicherlich jedes Mal überrascht werden. Gleichzeitig ist die Experimentelle natürlich auch und entgegen allem Anschein eine soziale Plastik, Kunst, die sich eben gerade nicht formalästhetisch definiert, sondern über ihre Macht gesellschaftliche Räume zu gestalten und zu verändern. Und vor Augen zu führen.

Vielleicht kann man sagen, dass das eigentliche Kunstwerk der Experimentellen der multinationale Kulturraum des erweiterten Bodensees darstellt. Eine echte Alternative zu Radwandern, Skifahren, Mainaublick und Bürgertröpfle. Oder ein Gegengewicht, ganz wie man's nimmt.

Weiteres zur Experimentellen 18

Aktuelle Informationen zur EXPERIMENTELLEN 18 
Vom Experiment zur Experimentellen. Eine Reise mit Rückfahrkarte. Von Albert Kümmel-Schnur
Vom Stolpern ins Ungewisse auf dem Weg zur Kunst, von Stefan Borchardt
Grußwort von Peter Friedrich, Minister für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten
Vernissage der EXPERIMENTELLEN 18 am 28.06.2014 in Randegg (D)
Rundgang Schloss Randegg, Deutschland 
Rundgang Amstetten, Österreich
Teilnehmende Künstler / Katalog