„Alles eher locker“ – über den Geist der Experimentellen

von
Stefan Borchardt
 
      
Als vor nunmehr 28 Jahren die Initiatoren der Experimentellen ihr Ausstellungsunternehmen begannen, bezogen sie sich mit der Wahl des Namens nicht allein auf ein wichtiges Antriebsmoment der von ihnen geschätzten und für die erste Ausstellung ausgewählten Kunst, sondern sie kennzeichneten damit auch explizit den wesentlichen Charakter ihres eigenen Projekts – das kulturpolitische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Experiment, eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst abseits ihrer Zentren und anderer Metropolen in grenznaher ländlicher Umgebung ins Leben zu rufen. Nachdem dies geglückt war, folgte im Anschluss daran die Fortsetzung des Experiments, im Bestreben, die Ausstellung am Leben zu halten und immer wieder neu mit Leben zu füllen. Dabei ist es gelungen, den Wirkungskreis von Ausstellung zu Ausstellung zu erweitern und über Gottmadingen, dem ersten Ausstellungsort, mit dem Schloss Randegg als Herzstück und Keimzelle des Unternehmens hinaus zu wachsen. Seit der Jahrtausendwende bildete die Experimentelle immer neue Ableger an verschiedenen Orten. In diesem dendritenartigen, organischen Wachstum des gesamten Ausstellungsprojekts wie im steten Wechsel einiger ihrer Ausstellungsorte, offenbart sich eines der wesentlichen Charakteristika dieser im Spektrum der Gegenwartskunst ungewöhnlichen Kunstbiennale, ihre strukturelle Offenheit und Flexibilität. Was diese Ausstellung – oder, angesichts der zahlreichen gleichzeitig bespielten Ausstellungsstationen genauer gesprochen: den Ausstellungsverbund Experimentelle durchgehend prägt, vom zugrundeliegenden Kunstverständnis bis in die Organisationsformen hinein, ist ihr informeller Charakter.

Die Experimentelle verfügt weder über eine explizit formulierte Programmatik, die sie alle zwei Jahre neu überdenken müsste. Noch scheint sie dem erregten und erregenden Puls des Kunstbetriebs folgen zu wollen. Dementsprechend schlagen sich auch in der Experimentellen nicht unmittelbar die wechselnden aktuellen Kunstströmungen nieder, die während ihres Bestehens aufgekommen sind, weshalb sie manchem Kritiker oder Besucher zeitlich entrückt und abseits vom aktuellen Kunstgeschehen erscheinen mag. Darin, wie in vielem anderen, unterscheidet sich die Experimentelle im Kern von anderen turnusmäßigen Ausstellungen zur Gegenwartskunst, wie den zahlreichen Biennalen oder der Documenta, die für die jeweils folgende Ausstellung eine neue Programmatik ins Zentrum stellen.

So gesehen, offenbaren sich in den verschiedenen Konzepten unterschiedliche Einstellungen zu den künstlerischen Prinzipien der Avantgarde, die die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts prägten und die – obwohl ihre Gültigkeit für die Gegenwart schon längst im Zuge der Postmoderne und der ihr folgenden kritischen Revisionen der Avantgarde bestritten und negiert worden ist – noch immer die Rezeption und Bewertung künstlerischer Ausdrucksformen sowie kunstbetrieblicher Anstrengungen wesentlich bestimmen. Am unmittelbarsten und deutlichsten sichtbar wird dieser Umstand im Streben dieser Unternehmungen danach, dem Takt aktueller Kunstströmungen zu folgen, mit ihm zu gehen oder gar ihn vorzugeben, auf jeden Fall aber, ihn zu reflektieren, was den zügigen Austausch der für Ausstellungen ausgewählten Kunst ebenso befördert wie den Wechsel der Präsentationsformen. Jede neue dieser Ausstellungen besteht in der Konjunktion mit der Aktualität und in der Distinktion zur jeweils vorangegangen Auflage.

In ihrem Versuch, die Gegenwart der Kunst auf ein Neues hin zu überschreiten, schreiben diese Kunstund Ausstellungskonzeptionen de facto das zentrale Paradigma der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts fort. Angesichts der Fokussierung auf Gegenwärtigkeit und Aktualität erscheinen diese Ausstellungspraktiken selbst immer neu gegenwärtig und aktuell, und es wird leicht übersehen, dass das ihnen zugrunde liegende Modell künstlerischen Wirkens selbst ein inzwischen historisches geworden ist. Dezidiert zeitgenössische Kunstströmungen und Kunstausstellungen beziehen weiterhin ihre Legitimation aus dem Bestreben, eine neue Position oder eine Neu-Positionierung im Feld der Kunst einzunehmen und fordern damit ihre Wahrnehmbarkeit als neu einsetzende, punktuelle Ereignisse. Im Überblick über ihren historischen Verlauf ergibt sich so das Bild von langen Straßen, die sich verzweigen und kreuzen und an denen Gebäude und Monumente unterschiedlichster Formen und Gestalten aufgereiht sind und in rascher Folge Neubauten entstehen.

Im Unterschied dazu bietet sich im Blick über die verschiedenen Ausstellungen der Experimentelle von ihren Anfängen bis heute weniger das Bild einer Abfolge gesonderter und mehr oder weniger spektakulärer Ereignisse – oder, um im Bild zu bleiben, ein Panorama von einzelnen Bauten oder Monumenten, entlang breiter Straßenzüge und weiter Plätze – als vielmehr der eigenen Situierung im geografischen Raum entsprechend, eine Art Landschaftsbild, das in gewisser Weise der Landschaft gleicht, aus der diese Idee kommt. In ihrer ursprünglichen Ausprägung bleibt die Landschaft sich gleich, doch unterliegt sie auch steter Veränderung und spürbarer Wandlung durch Naturereignisse und menschliche Eingriffe.

Zu den herausragenden charakteristischen Orientierungspunkten in diesem Landschaftsbild gehören einige Künstler, die wie albertrichard Pfrieger, Uwe Lindau, Harald Häuser und Heinz Pelz, von den Anfängen bis heute beteiligt sind. Zu ihnen gesellten sich Anfang der 1990er Jahre die beiden Maler Helmut Sturm und Dieter Krieg, die der Experimentellen stets ihre Treue hielten, und die beide auch heute noch, Jahre nach ihrem Tod, auf jeder Experimentellen vertreten sind. Um diesen Kern stets beteiligter Künstler herum werden in wechselnder Zusammenstellung Werke weiterer renommierter sowie neu auftretender jüngerer Künstler – oder wie es auf der Internetseite der Experimentelle so schön heißt: „Jungartisten“ – gruppiert. Während die Namen einiger von ihnen nur einmalig oder episodisch im Teilnehmerfeld der Experimentellen auftauchen, entwickeln sich andere wiederum zu vertrauten Konstanten des sich wandelnden Landschaftsbildes.

Wer die hier häufiger vertretenen Künstler und ihre Werke von daher schon länger kennt, mag auf den ersten Blick wenig aufregend Neues oder Überraschendes entdecken können. Man kann es auch von anderer Seite sehen, worauf Albert Kümmel-Schnur im Katalog der letzten Experimentelle einging: Auch aus der Betrachtung eines Neuen, aber ähnlich schon Gesehenen kann ein ganz eigenes Vergnügen oder ein spezifischer Gewinn gezogen werden. Das Neue und Überraschende findet sich möglicherweise eher in der Wandlung einer Eigenart, im Umgang mit Materialien, Motiven und Formen. Man kann auch staunen und sich überraschen lassen, von der mehr oder weniger strengen Kontinuität, mit der einige Künstler ihre Themen verfolgen. Einige entwickeln sich vielleicht sprunghaft, andere vollführen keine spektakulären Sprünge, sondern durchlaufen langsame Entwicklungen. Mit der Experimentellen besteht ein Ort, an dem man in jedem zweiten Jahr die Gelegenheit hat, zu beobachten, wie Künstlerinnen und Künstler sich mit ihren gewählten Fragen und Wirkungsabsichten über längere Zeiträume auseinandersetzen und damit die Möglichkeit, diese Auseinandersetzung kontinuierlich nachzuverfolgen.

Daraus folgt als weiterer Aspekt, dass die wiederholte Präsentation derselben Künstler in aufeinanderfolgenden Ausstellungen ihr je eigenes Verhältnis von Kontinuität und Wandel nachzuvollziehen ermöglicht. Weiterhin kommt hinzu, dass die Werke derselben Künstler sich alle zwei Jahre an anderen Orten oder in anderen Räumen und in anderer Nachbarschaft befinden. Sie werden in jeweils unterschiedliche räumliche und künstlerische Kontexte gestellt, die ihre Wahrnehmung ebenso verändern wie die der umgebenden Werke. Das gilt umso mehr, als die Ausstellungen der Experimentellen an jedem der beteiligten Orte einen anderen Charakter haben. In Auswahl und Präsentation nehmen die Ausstellungen die Eigenart und Atmosphäre der Örtlichkeiten und lokalen Gegebenheiten auf. Das heißt, der erläuterten Grundhaltung der Experimentellen entsprechend, wird hier nicht mit einem einund durchgängigen Konzept jedweder Ausstellungsraum bespielt, sondern jeder als Wirkungsstätte eigener Art für die Kunstwerke zugänglich gemacht.

Unter den ausgewählten Künstlern befindet sich jedes Mal eine satte Anzahl von Malern und eine Reihe von Bildhauern, hie und da gibt es Zeichnerisches oder Fotografisches. Die unterschiedlichen elektrifizierten Medienkünste haben bisher keinen Eingang gefunden. Temporäre künstlerische Ausdrucksformen wie Performances finden regelmäßig auf Einladung während der Experimentellen an verschiedenen Ausstellungsorten statt. Allerdings scheinen die Verantwortlichen der Experimentellen einen merklichen Abstand zu den unterschiedlichen Formen von Kunst zu halten, die den Ausstieg aus dem Bild zugunsten einer vermeintlich stärkeren gesellschaftlichen Relevanz propagieren. Diese Bewegung setzte ein mit dem Happening und der Performance, die in den 1960er Jahren herausfordernd die Bühne der Kunst betraten und die sich seit den 1990er Jahren in immer wieder anderen Rollen kleidet – die meisten davon mit dem Anspruch auf möglichst unmittelbares gesellschaftliches Wirken, von der Dienstleistungskunst zur aktuellen Bewegung des Artivism, die dezidiert politische Aktion als Kunstform betreibt. Der über das Kunstfeld hinauszielende Impuls hin zu unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz, prägt zahlreiche der bestimmenden Richtungen neuerer Kunst, wie etwa die unterschiedlichen Formen der partizipativen Kunst mit ihrem Anspruch, Laien und Publikum zu Mitgestaltern und Mitkünstlern zu machen, sowie den boomenden Bereich der „Kunst als Forschung“, in dem die – spätestens mit Leonardo evident gewordene – Fähigkeit der künstlerischen Exploration der Welt als eine völlig eigenständige und spezifische Erkenntnismethode zum Ausgangspunkt eines Kunstkonzepts geworden ist, mit dem seine Vertreter glauben, künstlerischem Tun unter zeitgenössischen Bedingungen neue Legitimation zu verschaffen, sie aber gleichwohl – wie die anderen genannten Strömungen einer außer der Kunst, ihrer Mittel und ureigenen Möglichkeiten liegenden Rationalität und Ökonomie unterwerfen.

Die Macher der Experimentelle haben immer festgehalten an künstlerischen Ausdrucksformen, die im Kunstwerk oder im künstlerischen Ereignis selbst, in seiner ästhetischen Erscheinung, ihr Gravitationszentrum behielten und darin sowohl ihre künstlerische als auch ihre gesellschaftliche Relevanz begründeten. Das gilt auch für die unterschiedlichen Positionen konzeptioneller oder installativer Kunst. Von diesen ist auf der Experimentelle nur wenig zu finden, wo aber eine vertreten ist oder war, wie in den Werken von Felix Droese oder Axel Heil, weist diese jenen hintersinnig humorvollen und subversiv anarchischen Zug auf, der auch bei den prägenden Malern der Experimentelle zu finden ist und der schon den Aktivisten der Künstlergruppen CoBrA und Spur eigen war, aus deren Kunstverständnis sich das Konzept der Experimentellen substanziell seit den Anfängen gespeist hat.

Die Wesenszüge informeller Kunstströmungen, wie auch der Humor in der Kunst vieler der beteiligten Künstler, zeichnen in ähnlicher Weise die Haltung der Veranstalter aus. Will heißen, hier herrscht ein vollkommen undogmatisches und ideologiefreies Kunstverständnis, das keinem Besucher sein Programm erläutern, seine Ansichten vermitteln oder seine Einstellungen aufdrängen will. Damit verbunden ist, dass sich an jedem dieser Orte der familiäre Charakter dieser Ausstellungsreihe erhalten hat – die einzelnen Ausstellungen werden in der Tat als Begegnungsstätten und Kommunikationsräume über die Betrachtung der hier ausgestellten Kunst erlebbar.

All dies zusammen, die familiäre Atmosphäre, der informelle Charakter, die Entspanntheit und Lockerheit auch im Umgang mit den Künstlern und mit ihrer Kunst selbst, verleiht der Experimentellen ihren stets heiteren und sommerlichen Festcharakter.

Weiteres zur Experimentellen 19 - Aus dem Katalog zur Ausstellung

Daten und Fakten
Grußwort von Peter Friedrich
Wilkommensgruß von Philippe Richert
Alles eher locker von Stefan Borchardt
Ganz im Ernst! Oder nur aus Spaß? von Andrea Dreher M.A.
Anker in der Welt, gesehen von einem Standpunkt außerhalb der Welt von Albert Kümmel-Schnur
Teilnehmende Künstler / Katalog
Impressum
Rundgang Schloss Randegg