Vita von Erich Radscheit

von Claus Hilschmann
 
      
Erich Radscheit, Hof bei Bergen, Oberbayern, AquarellFrüh führt seine künstlerische Begabung Erich Radscheit im Alter von 17 Jahren an die Folkwangschule, Essen. Seine Eignung belegt er mit einer Mappe Zeichnungen von erstaunlicher Reife. Während des Studiums von 1928 bis 1932 bei Max Pfeiffer-Watenphul, Josef Urbach, Max Burchartz und Karl Rössing bestätigt sich sein her­ausragendes Talent, sodass er 1934 an die Kunstakademie Düsseldorf gelangt. Hier und an der Landakademie Kalkar bei Max Clarenbach, Julius Paul Junghanns und Franz Radziwill sowie an der Landakademie Schloss Rindern bei Otto Coester besucht er nun von 1934 bis 1938 die Klasse für freie künstlerische Gestaltung. Die Sympathie seiner Lehrer sichert er sich wohl auf unbekümmerte Weise, indem er sie augenblicklich karikiert. Die Karikaturen in einem Strich sind z. T. erhalten geblieben.
Der mit seiner Geliebten Lilo Werth während zweier glücklicher Aufenthalte gehegte Traum vom anspruchslosen Leben und gemeinsamen intensiven Arbeiten in einem bescheidenen Fischerhaus an der Ostseeküste Pommerns hat sich nicht erfüllt. Erich Radscheit wird nach kurzer freiberuflicher Tätigkeit 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Die Folgejahre bis zur Entlassung aus russischer Gefangenschaft 1947 werden zur bitteren Zäsur. Zudem vernichtet ein Luftangriff auf Düsseldorf in der Nacht vom 11. auf 12. Juni 1943 seine Wohnung und sämtliche dort gelagerten Arbeiten.
Licht im Dunkel ist, dass die inzwischen mit ihm verehelichte Lilo Werth im vor dem tobenden Krieg sicheren Bergen in Oberbayern 1944 die Tochter Regine zur Welt bringt.

Erich Radscheit, Haus in ZentralspanienAm Beginn des zweiten Lebensabschnitts steht die Gründung eines Ateliers für Produktdesign und Werbung 1948, das er bis 1975 betreibt. Doch der Künstler in ihm regt sich wieder: Bereits 1947, kurz nach seiner Rückkehr in die Heimat, unternimmt er Exkursionen in die freie Natur und versucht, den Ballast durchlebter quälender Jahre abzuwerfen. Feine Bleistiftzeichnungen in Skizzenbüchern und auf Einzel­blättern entstehen. Dann versenkt er sich, wie um sein technisches Können auf die Probe zu stellen, im Stillleben. Rund 20 kleinformatige sensible Ölbilder entstehen. Die Kostbarkeiten geraten in Vergessenheit. 50 Jahre später werden sie im Werkraum des Atelierhauses unter dem Keramik-Brennofen von Lilo Werth wie achtlos gestapelt vorgefunden und dann von den Münchner Restauratoren Beate und Henning Strube-Bischof fachkundig instand gesetzt.
In den 50er-Jahren ist bei gleichzeitigem Aufbau der beruflichen Existenz und danach im Verlauf der 60er-Jahre jede freie Minute, jedes Wochenende mit Zeichnen und Malen ausgefüllt. Man hat den Eindruck, dass jedes verfügbare Stück Papier, alte Postsäcke auf Rahmen gespannt, Span- und Holzplatten unbändigen Schaffensdrang auslösen. Eruptionen gleich entstehen großformatige visionäre Bilder und insbesondere auf Reisen wieder Serien von Zeichnungen und Skizzen, die später neue Phasen künstlerischer Fortentwicklung auslösen sollten. Das karge Zentralspanien wird ihm zur Herzensangelegenheit.

Erich Radscheit, Haus am Meer, ÖlAls Erich Radscheit 1975 jegliche berufliche Verpflichtung abwirft, kommt es zu einem Durchbruch an Willens- und Schaffenskraft, markiert von Reisen nach Italien, Griechenland und dem Vorderen Orient, nach Frankreich, Spanien und Nord­afrika. Auf hoher See schläft er nachts auf Deck, überlässt sich Wind und Wetter, inhaliert das Endlose, das Endgültige. Klausuren auf Ibiza und andernorts sind zeichnerischer Meditation in der freien Natur gewidmet – und schaffen neue Dimensionen und Sichtweisen.
Beim Durchwandern des Alcá­zars von Sevilla zitiert er lakonisch Nietzsches Wort: »Wer die Macht hat, hat die Lust.« Neidlos hingesagt, umschrieb er damit, was jeden Künstler umtreibt: Die Gestaltung und der Lustgewinn, die Erfüllung und die Erlösung.
Ab 1979 werden ihm die Gouachen zu einer weiteren aufregenden Facette seiner Arbeiten im kleinen Format und begleiten ihn stetig in den 80er-Jahren. Sie sind ursprünglich als Entwürfe und Vorübungen zu Bildern in großem Format gedacht. Die spontane Niederschrift – die écriture automatique –, die Zeichentisch-Distanz und die Bewegung der Hand, ganz dem Zeichnen zugewandt, lässt sie im Spiel mit der Risikolust und der beständig überquellenden Fantasie zu Kompositionen und Gedankenspielen besonderer Art auswachsen. Noch ahnt er nicht, dass er 2007 auf digitalem Weg Großformate davon erstellen lässt.

Gleiches gilt, wenn Erich Radscheit vorgefundene Bildformate verwendet: Katalogblätter, Anzeigenwerbung, Illustriertenausschnitte u. Ä. Durch Übermalen tilgt er ganze Partien. Das Gemeinte ist das fragmentarisch Belassene, das Nichtgemeinte wird weggenommen. Hunderte von Blättern entstehen in kurzer Zeit.
Erich Radscheit, Zwei ButtonsSchließlich begibt er sich immer wieder ins Informelle. Optisch unausweichliche, geradezu hypnotisch agierende Bildelemente kommen zur Umsetzung. Gelegentlich kommt auch die ihm angeborene Fähigkeit des Porträtierens wieder zum Zug. Gleichzeitig arbeitet er an groß- und kleinformatigen Radierungen.
Im Spannungsfeld dieser Radierungen überprüft Erich Radscheit das in den vorausgegangenen Jahrzehnten Erarbeitete, nimmt es in der kritischsten Disziplin der Grafik erneut auf den Prüfstand. Radierung in Ätztechnik, als Kaltnadelradierung, als Weichgrundätzung und in Aquatinta-Technik kommt zum Einsatz. In diesem »Labor« werden frühere Aussagen zitiert, beschwört, wiederholt eingekreist, ausgetauscht oder gar – in tachistischen Blättern – dem Vergessen geopfert. Seinen verehrten Lehrer, den führenden Radierer Otto Coester, dem er seine Motivation verdankt, hält Erich Radscheit dabei in steter Erinnerung.
Und er malt und stellt ständig aus. So die herausragende Serie von kleinformatigen Arbeiten 1992, die er bewusst mit Adjektiven betitelt, weil sie für einen unveränderlichen Zustand stehen, und die Serie von rund 50 Werken in mittelgroßem Format, die von 1995 bis 1998 entsteht. So manchen seiner Protagonisten monumentalisiert er, auch gehen metaphysische Gestalten auf Wanderung, und Icons werden zu Menetekeln. Dann erlischt Erich Radscheits Augenlicht nahezu, sein Intellekt aber bleibt noch für weitere zehn Jahre wach.

Weiteres zur Erich Radscheit und zur Ausstellung

Wissenwertes kurz und knapp 
ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester
FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit
Auszüge aus dem Katalog (Auswahl einiger Werke)
Vernissage und Rundgang durch die Ausstellung

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Essay: ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester 
Essay: FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
Essay: ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit