ERICH RADSCHEIT, DER MALER

von Rainer Braxmaier
 
      
Erich Radscheit, GedankenSicher ist es keine herausragende interpretatorische Leistung, einem Maler, der knapp acht Jahrzehnte künstlerische Praxis ausüben durfte, eine große malerische Erfahrung zuzuschreiben. Doch genau dies drängt sich als erster Eindruck dem Betrachter auf, der selbst mit flüchtigem Blick das riesige Konvolut seiner Arbeiten sichtet. Hier war jemand am Werk, der genau wusste, wie er Pinsel oder Stifte zu führen hatte, um zu seinem Ziel zu kommen. Die Sicherheit, mit der Erich Radscheit seine Formate strukturiert, in spannendem Wechsel zwischen abstrakter Arbeit und figürlicher Absicht changiert, ist frappierend. Und immer ist sichtbar, dass der Künstler nicht vom Wollen ausgeht – sich also eine thematische Vorgabe macht –, sondern seine Bilder aus dem Bestand der malerischen Entwicklung hervorruft. Ob eine Stange ein Mensch wird, Augen und Arme bekommt, entscheidet sich nicht aus einer inhaltlichen Absicht heraus, sondern folgt den formalen Tatbeständen.
Diese grundsätzliche Erforschung des bildnerischen Geländes ist eine klassische Vorgehensweise, die Erich Radscheit zum Kind seiner Generation macht. 1911 geboren, im gleichen Jahr, in dem Kandinsky sein erstes gegenstandsfreies Bild schuf, hat er die Entwicklung der klassischen Moderne gewissermaßen mit der künstlerischen Muttermilch eingesogen. Die Fähigkeit zur Abstraktion, die dem Künstler die Möglichkeit gibt, bis an die Grenze des figurativ Lesbaren zu gehen, ohne je die Bühne des Geschichtenerzählens verlassen zu müssen, hat lebenslang das Format der malerischen Arbeit Erich Radscheits bestimmt. Die erste Schlacht um die Autonomie einer Fläche, ihre malerische Substanz und Tiefe, die aus ebendieser Vielschichtigkeit herausentwickelt wird, der organische Verlauf einer Linie, der dem Wachsen eines Baumes entspricht, als habe sie ebenfalls Wind und Wetter, atmosphärische Einflüsse und Störungen auszuhalten und zu überwinden, schaffen eine Parallelwelt zur Naturanschauung, die dem Künstler ein neues, freies Feld auch der inhaltlichen Assoziationen beschert.

DIE FORMEN IM WECHSLESPIEL
In der Regel bilden sich Radscheits Kompositionen parallel zu den Außengrenzen seiner Formate, also in grundsätzlich waagerechter oder senkrechter Ausrichtung. Eine Entwicklung entlang der Diagonale ist eher die Ausnahme. Ihre Dynamik erhalten seine Figuren aus den leichten Schwingungen entlang dieser Ordnungslinien oder durch Binnenformen, die sich gegen ihre Hüllen sträuben. Diese Verschachtelung der Kleinformen, die sich dadurch zur großen Form addieren, ist ein beliebtes Gestaltungsprinzip Erich Radscheits. Es entspricht dem tastenden Suchen nach der »künstlerischen Wahrheit« – ausufern und zurückweichen, eine Bewegung andeuten und wieder herausnehmen. So lange, bis die »gültige Form« gefunden ist.

DAS RÄUMLICHE SEHEN
Ebenso charakteristisch stellt sich das Raumkonzept seiner Malerei vor. Radscheit verzichtet fast vollständig auf illusionistische Hilfslinien. Bühnenartig agieren die Figuren im Vordergrund, werden von ihm sogar bevorzugt auf die untere Bildkante gestellt, wie das Kinder machen, die den illusionistischen Tiefenraum noch nicht kennen und sich stattdessen der tatsächlichen räumlichen Verhältnisse des Bildfeldes bedienen. Räumlichkeit entwickelt sich durch die Form der Binnenfiguren, die sich gegen ihren Umraum durchsetzen müssen oder von ihm aufgesogen werden, sowie durch die Farbwahl und die Faktur seiner Malerei. Das beginnt bei malerischen Standards – Farben entwickeln selbst räumliche Energie; kalte Farben strömen nach hinten, warme Farben drängen in den Vordergrund, und auch die Umkehrung dieses Tatbestands kann der Maler künstlerisch nutzen: In dem Bild »Gelber Tag mit Mond«, eine Mischtechnik auf Sperrholz aus dem Jahr 1997 (Seite 7), kehrt der Künstler jegliche Naturerfahrung um. Die gelbe Hintergrundfarbe drückt die Szene an den Bühnenrand; die Mondsichel am Taghimmel ist hingegen dominant blau und ebenso wie die übrigen Bildfiguren beherrscht von dem Komplementärkontrast Blau-Orange. Einige zeichnerische Ornamente sind dem Schwarz angenähert. Dieses Bild, das scheinbar jede physikalische Ordnung auf den Kopf stellt, funktioniert gerade deshalb, weil sich die vorgebliche Spontaneität und das Folgen einer plötzlichen Eingebung in Wahrheit innerhalb 
eines sehr präzisen Rahmens bewegen. Dieser erst gibt dem Künstler die Möglichkeit, in den Details frei zu improvisieren, ohne der Beliebigkeit anheimzufallen. Das Bild wirkt konzentriert, hat einen »Körper« und besticht durch seinen einheitlichen Duktus. Dies würde nicht gelingen, wenn der Maler nur seine Vorstellung niedergeschrieben hätte. Der Dialog der verschiedenen künstlerischen Elemente findet direkt auf dem Bildfeld statt und ist nicht einer Idee nachgestaltet. Das erhält dem Bild seine Frische; sie resultiert aus der annähernden Gleichzeitigkeit von Idee und Umsetzung.

Erich Radscheit, ohne Titel, 31x23cmRAUM UND ZEIT DER GOUACHEN
Um den Maler Erich Radscheit würdigen zu können, studiert man sein Werk am besten nicht nur in den repräsentativen Großformaten, sondern auf den Übungsfeldern, die den Künstler oft risikofreudiger und mutiger erleben lassen. Erich Radscheit hatte sich dazu die kleinformatigen Gouachen auserkoren, die ihm eigentlich als Entwürfe und spontane Niederschrift bildnerischer Ideen dienen sollten, sich aber dann zu einem eigenständigen Werkkomplex entwickelt haben. In seinem Nachlass finden sich gut 250 dieser Blätter, ein unerlässlicher künstlerischer Erfahrungsschatz, der den Charme des Flüchtigen mit der Konsequenz des Gültigen verbindet.
Dabei ist schon der Bildgrund von Bedeutung. Erich Radscheit hat seine finalen Werke am liebsten auf Sperrholz, gelegentlich auf Leinwänden angefertigt, die es ihm erlaubten, in seinen Mischtechniken mit ganz anderem Materialeinsatz aufzurüsten. Die Gouachen hingegen sind in der Mehrzahl auf grundiertem Papier aufgetragen, ein Bildgrund, der viel sensibler und weicher auf die malerischen Handlungen reagiert als die »harten« Bildgründe. Das breite Wirkungsspektrum von Farbe zwischen Aufgesogen-Werden und dem materiell spürbaren Aufliegen der Farbmasse erlauben eine ausufernde Skala der »Peinture«, des gepflegten malerischen Auftrags. Dabei reagiert der Bildgrund selbst auf den Farbauftrag, windet und wellt sich unter der geronnenen Farbe und bildet sozusagen sein eigenes Relief als echte dritte Dimension, die auch bei der Rahmung unter Glas erhalten bleibt und den Bildern den organischen Gehalt eines gewachsenen Prozesses verleiht. Hier kreuzen sich Raum und Zeit in der reinen Malerei, ohne dass der Künstler diese Dimension durch eine inhaltliche Abfolge simulieren muss.
Wie das funktioniert, wird in dem Beispiel der Gouache »Gedanken« von 1988 sichtbar, also aus jener Lebensphase, in der sich Erich Radscheit ganz der Passion der Malerei widmen konnte. Das Blatt in energischem Hochformat mit einem Seitenverhältnis von nahezu zwei zu eins ist wie fast alle seine Gouachen im kleinen, aus dem Handgelenk zu bearbeitenden Format von etwa 30 x 20 cm gehalten. Die dominierende Farbfläche ist ein grelles Magenta, das der Gesamtkonzeption allein dadurch einverleibt wird, dass es auf einer erdigen Untermalung liegt, die an manchen Stellen fleckenartig durchscheint. Damit hat er die eigentlich sehr technische Farbe, die man als eine der vier Grundfarben des Vierfarbdrucks kennt, organisch gebunden. Diesen Eindruck verstärkt der Maler noch, indem er oben und unten zwei schmale Streifen der Untermalung frei lässt, die ihrerseits unterliegende Malschichten bloßlegen. Auf diese komplexe Schichtenmalerei legt der Künstler nun eine biomorphe Form, vorwiegend in stellenweise transparentem Weiß gehalten, die ihren offenen und 
geradezu flüchtigen Charakter dadurch erhält, dass es keine festen Umrisse gibt, nicht ein­-
mal eine opake Oberfläche. Die Form hat einen aufsteigenden Charakter, der nicht nur an den Bild­titel »Gedanken« erinnert, sondern darüber hinaus sogar an einen Gedankenflug. Mit großer Raffinesse hat Erich Radscheit Zeichnung und Malerei, zum Teil nass in nass, ineinander verwoben und im Ganzen ein vielschichtiges, kompliziertes und letztlich doch ausgeglichenes Gebilde geschaffen, das feinste Valeurs ebenso integriert wie harte Kon­traste: ein Menü voller Lust am Malerischen, getragen von einem geradezu kulinarischen Feingeist. Erich Radscheit war ein »Artist,s Artist« – ein Maler für die Maler, das größte Kompliment, das man ihm machen kann.

Weiteres zur Erich Radscheit und zur Ausstellung

Wissenwertes kurz und knapp 
ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester
FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit
Auszüge aus dem Katalog (Auswahl einiger Werke)
Vernissage und Rundgang durch die Ausstellung

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Essay: ALLES VERSINKT UM MICH. ERICH RADSCHEITS BILDERWELTEN, von Andreas Burmester 
Essay: FIGUREN, GRÜNDE UND ZWEI KÜSSE, von Albert Kümmel-Schnur
Essay: ERICH RADSCHEIT, DER MALER, von Rainer Braxmaier
Vita von Erich Radscheit