Hart & hungrig  
     
Zu den neuen Pinselzeichnungen von albertrichard
 
Kann man einem einzigen Pinselstrich vertrauen? Kann man ihm vertrauen, wenn er derart roh und ungehobelt auf dem Papier erscheint wie bei albertrichard? Kann man ihm Vertrauen schenken, wenn er sich mit einigen wenigen anderen zusammen tut, um ein Gebilde zu formen, das niemand kennt? Die spontane malerische Geste des Künstlers flieht bereits die Bildfläche, kaum dass sie sie betritt. „Wenn ein Bild unbequem ist, ist es gut,“ sagt albertrichard, und spricht damit einen zentralen Punkt seiner Arbeit an: Die Notwendigkeit, rechtzeitig den Malprozess zu stoppen, bevor er in ein harmonisierendes Weben übergeht und dem Bild die kontrastierende Härte, die innere Reibung nimmt. „Aber das Unbequeme ist manchmal schwer zu ertragen,“ fügt der Künstler hinzu, und weiss, was es bedeutet, mit dem ungelenken Fremden zu leben, es gewähren zu lassen, im Wissen, dass es im Lauf der Zeit ein Stück Selbstvergewisserung in einer immer ungewisseren Welt zurück geben wird. Was zunächst geradezu paradox erscheint, die Vergewisserung des Selbst durch die Rätselhaftigkeit des Fremden, erweist sich als Dreh- und Angelpunkt der Pinselzeichnungen von albertrichard.
    Wer sich eingehender mit den Blättern beschäftigt, wird bald feststellen, dass es insbesondere die rohen, „unfertigen“ Bilder sind, die eine besondere Produktivität in der Vorstellung auslösen. Sie sind auf erfrischende Art ungelenk, weil sie dadurch der falschen Glätte scheinbarer Vollendung entgehen. Sie öffnen einen weiten Raum, um im Katz und Maus zwischen Gegenständlichkeit und Gegenstandslosigkeit mal die autonomen Kräfte des Malerischen, mal die eine oder andere gegenständliche Facette sichtbar werden zu lassen. Man kann also getrost einem Pinselstrich vertrauen, wenn er so hart und hungrig daher kommt.
 
Solcherlei heute zu erreichen, bedeutet viel nach einem Jahrhundert voll malerischer Erfindungen und Revolutionen. Alle denkbaren stilistischen Formen scheinen längst erprobt, verworfen, erneut überprüft und abermals zurückgestellt. Welche Erfindungskraft darf zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts von der Malerei überhaupt noch erwartet werden? Oder ist die weit verbreitete Erwartungshaltung, von der Gegenwartskunst stets Innovation einzufordern und zum entscheidenden Kriterium, zum alleinigen Massstab ihrer Legitimation zu erheben, inzwischen überholt? Spiegelt sich darin noch immer ein vielleicht längst irrelevant gewordener Kunstbegriff, der seine Wurzeln in der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat und dem wir unbewusst immer noch anhängen, nicht nur anhängen, sondern blind vertrauen?
    Die Frage nach Innovation hängt mit der Frage nach Relevanz zusammen. Wenn Malerei einen Nerv ihrer Zeit trifft, etwas über ihre charakteristischen Eigenschaften aussagt, besteht die Möglichkeit, dass sie auf kurz oder lang zum Gedächtnis der Kunst beiträgt. Wenn uns albertrichard in einigen seiner Bilder eine sympathische Form an Mangel, Armut und Hunger vorführt, indem er seine Pinselstriche frühzeitig abbricht, indem er der Versuchung widersteht, das Bild symphonisch zu orchestrieren, dann steht dieser schroffe Entzug an Fülle in einem Zusammenhang mit der Inflation an Bildern und Bewegungen, Formen und Farben, die in Werbung, Fernsehen, Internet und Filmindustrie alltäglich über uns hereinbrechen. Je schwülstiger diese kommerziellen Feuerwerke abgebrannt werden, um das immer kostbarere Gut öffentliche Aufmerksamkeit für merkantile Zwecke in Beschlag zu nehmen, desto überdrüssiger werden wir all dem. Stattdessen macht sich eine neue Sehnsucht nach Verweilen, nach Kargheit und archaischer Ursprünglichkeit bemerkbar.

In seinen zumeist kleinformatigen Arbeiten „wirft“ albertrichard mit spontaner Pinselgeste die Farbe aufs Papier. Manchmal geht in einem ersten Schritt eine Graphitzeichnung voran, die in einzelnen Blättern trotz der darauf folgenden Pinselstriche teilweise noch sichtbar bleibt. Ihrem Charakter nach handelt es sich selbst bei den besonders malerisch ausformulierten Blättern um Zeichnungen. Der Künstler entwickelt die Form aus der Linie heraus. Auch wenn sich die Pinselstriche stellenweise zu Flächen verdichten, entspricht ihr Bewegungsverhalten dem von Linien. Doch im Gegensatz zur dünnen, drahtigen, asketischen Linie aus Graphit besitzt die breite, farbige Volumen und Fläche. Auch wenn sie in koloristischer Hinsicht oftmals betont verhalten auftritt – beispielsweise in verschiedene Grauabstufungen ausdifferenziert –, bezieht sie ihre energetische, dynamische Wirkung nicht nur durch ihre engen Kurvenradien und Schlaufenformen, sondern auch durch ihre farbliche Tonalität.

albertrichard beschreitet einen schmalen Grat zwischen gegenständlichen Andeutungen und gegenstandslosen, autonomen Formfindungen, so dass sich ein beziehungsreiches „Flackern“ zwischen gegenständlicher Erinnerung und gegenstandsferner Abstraktion entwickelt. Folgt man der Arbeitsweise des Künstlers, entfaltet sich dieses Gefüge spontan und ohne vorher gefassten Plan aus dem Prozess heraus. Umso reizvoller ist es, die unversehens errichteten „Rohlinge“ zu befragen und mit dem eigenen Reservoir an Assoziationen und Erinnerungen in Verbindung zu setzen. Ist auf dem Bild mit dem Titel Oase tatsächlich eine Oase dargestellt, oder handelt es sich vielmehr um eine kreisende Raumstation oder um ein rätselhaftes keramisches Gebilde? Das schwebende Objekt über einer übermalten, schlafenden Schlaufenform am unteren Bildrand lässt sich in unterschiedliche gegenständliche Richtungen lesen. Ein Raumschiff kann im übertragenen Sinn tatsächlich eine Oase sein, das ist nicht auszuschliessen, aber wir hätten im ersten Moment sicher nicht daran gedacht. Der Bildtitel dient nicht, wie gewohnt, als Lesehilfe, sondern agiert – sprachlich autonom – als eigenes künstlerisches Mittel. Blut und Silber
    Blut und Silber ist ein Beispiel, wie der Bildtitel auf etwas verweist, das im Bild nicht wirklich beweisbar ist: Weder Blut noch Silber sind tatsächlich fassbar, aber immerhin vorstellbar, auch wenn man nur vage vermuten kann, welcher Bezug zwischen diesen beiden so gegensätzlichen Dingen besteht. Aber genau darin liegt der Reiz dieser Werke, man müsste genauer sagen, ihr unterschwelliger Humor: Wir wollen eine Oase wiedererkennen und finden ein Raumschiff, wir sollen Blut aufspüren und entdecken ein rätselhaftes Gebilde, das ebenso pflanzlichen wie fleischlichen Ursprungs sein kann.
Noch einen Schritt weiter geht albertrichard in Besonders nicht: Nun sind erst recht keine Dinge mehr bezeichnet, sondern so etwas wie eine Verneinung, die vielleicht eine gewisse Gefühlslage widerspiegelt. Oder etwa eine Aussage, dass es sich um nichts besonderes handelt? Und doch bindet sich diese Emotion an eine dingliche Gestalt: Haben wir zwei schmelzende, ineinander greifende Zahnräder vor uns, sind es zwei Mäuler mit Zähnen und Zahnlücken, oder ist am Ende überhaupt nichts Gegenständliches gemeint? albertrichard schickt uns in ein unbekanntes Gelände, gibt uns scheinbar unpassende, aber um so charmantere Bildtitel an die Hand, die mehr Fragen auslösen, als sie beantworten. Die Bilder zeigen bei der gemeinsamen Erkundung des unbekannten Terrains, wie festgefahren unsere Begriffe sind, wie vorschnell wir bestimmte gegenständliche Anklänge gegenständlich fixieren, auch wenn sie vielleicht etwas ganz anderes bedeuten. Offenbar sind wir so konditioniert, unbekannte Dinge und Situationen möglichst schnell zu erkennen und positiv zu bewältigen, doch nehmen wir uns dadurch die Möglichkeit, uns auf etwas Undeutbares vorurteilsfrei einzulassen. Aber nur wer sich auf diese Reise ins Unbekannte und Fremde, ins manchmal auch Unangenehme und Abgründige einlässt, hat die Chance, seine Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit zu differenzieren. Dies wiederum ist notwendige Voraussetzung, wollen wir etwas Neues über uns selbst, über unsere Gegenwart und Vergangenheit aufdecken.

Besonders NichtBleibt die Frage, wie sich die neuen Pinselzeichnungen von albertrichard im Kontext der gegenwärtigen Malerei verhalten, die in Deutschland schon seit einigen Jahren von der Neuen Leipziger Schule und ihren vielfältigen Varianten beherrscht wird. Dabei kommt der Figuration eine noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehaltene Bedeutung zu, ob sie beispielsweise in eine mythische, märchenhafte Vergangenheit gerichtet ist (Neo Rauch), kollektive Erinnerungen jüngerer Zeit aktualisiert (Matthias Weischer) oder Einsamkeit und Melancholie einer jungen, urbanen Generation widerspiegelt (Tim Eitel).
    Doch die asketischen, malerischen Pinselgesten von albertrichard besitzen einen ganz anderen, diametral entgegengesetzten Ausgangspunkt, der in der écriture automatique der Surrealisten wurzelt, in jener automatistischen Geste, die mit verschiedenen Methoden die rationale Kontrolle des Künstlers über den Malprozess auszuschalten suchte, in der Überzeugung, dass nur auf diese Weise innere Kräfte des Unbewussten zur bildlichen Darstellung gelangen könnten. Die emotionale Befindlichkeit des Künstlers, seine existentielle Spannung wurden als massgebliche Energien betrachtet, die das Bild steuern. Indem albertrichard in den angesprochenen Arbeiten rohe, ungelenke Pinselstriche miteinander konfrontiert, gelingt es ihm, im Sinne der écriture automatique aus archaischen, im Unbewussten verborgenen Energien zu schöpfen, die eine hohe Authentizität besitzen, da sie viel über das Entstehen und Vergehen des Lebens berichten, ohne dass sie erzählerisch plaudern. Prozesse der Entstehung von Form und Farbe und solche ihrer Auflösung, Zerstörung und Überlagerung sind den Arbeiten ablesbar und stehen als Metaphern für die grundlegenden Parameter, die das menschliche Leben bestimmen. Jeder neue Pinselstrich, der einen vormaligen überlagert, erinnert an eine archäologische Schicht, die das Vorherige überwächst, die eigene Vergangenheit umformt, verwischt und um ein weiteres Kapitel in einer unendlichen Geschichte ergänzt.

Wenn wir die Begriffe „Armut“ und „Hunger“ den kargen Pinselstrichen der Blätter von albertrichard zuordnen, dann in der Absicht, damit ihren asketischen, kontemplativen Charakter zu umschreiben. Der Verzicht auf Opulenz, Fülle oder orchestralen Reichtum verleiht ihnen ihren verfänglichen Charme und ihre Glaubwürdigkeit. So knochig und hungrig, wie sie daherkommen, so rasch gewinnen sie unsere Sympathie, denn sie lassen genau das anklingen, was zunehmend zum Bedürfnis wird: Rückbesinnung auf die Magie des scheinbar so einfachen, banalen Dings, das, von allen übersehen, hinfällig am Wegrand wächst und doch so viel aussagt über die elementaren Zusammenhänge des Lebens. Ein einzelner Ton kann bewegender sein als die Vielstimmigkeit eines Orchesters. Ein einzelner Pinselstrich kann tiefer gehen als ein von Farben und Formen überbordendes Bild. Es kommt nur darauf an, welche Eigenschaften er in sich trägt, welche Substanz, welche Glaubwürdigkeit er besitzt. Löst er etwas in uns aus, oder lässt er uns gleichgültig weitergehen?
 
Markus Stegmann