FREIE GESTE - STARKE FORM
Annäherungen an die Experimentelle 17


von
Dr. Andreas Gabelmann
 
      
Auch zum siebzehnten Mal bietet die Experimentelle der zeitgenößischen Kunst ein vielbeachtetes, international ausgerichtetes Forum. Abseits akademischer Tradition, stilistischer Konvention oder modischer Trends lotet die breit angelegte Werkschau mit rund 70 Künstlern aus 6 Ländern an 5 Orten einen erweiterten Kunstbegriff aus, der verschiedenste künstlerische Positionen und unterschiedlichste gestalterische Potentiale in Malerei, Zeichnung, Skulptur, Installation, Objektkunst und Performance zu einer äußerst lebhaften, von Gegensätzen und Gemeinsamkeiten, Wechselwirkungen und Reibungspunkten, Abgrenzungen und Befruchtungen, Dialogen und Verflechtungen geprägten Interaktion verdichtet.

Ausgangspunkt und Kerngedanke der Experimentellen war und ist die Idee der informellen Kunst der 50er und 60er Jahre, bei der die Aspekte von Farbe und Form radikal aus den Zwängen einer vorbestimmten Funktion befreit wurden und in ihrer bedingungslosen Eigenständigkeit zum autonomen Ausdrucksträger avancierten. Im Fokus der künstlerischen Intention stand der reine, dynamisch-gestische Schaffensakt. Im vehementen Malprozeß erklärte sich das eigentliche Thema der Darstellung. Spuren, Gesten, Fragmente, Chiffren, wild und ungestüm auf die Leinwand gebannt, unmittelbar, direkt und zupackend in Außage und Wirkung. Aus dieser, mittlerweile als "Tradition" zu bezeichnen den Ära des abstrakten Expreßionismus schöpft die Experimentelle bis heute ihren Fundus. Impliziert ist der Gedanke des Experiments, des spontanen oder wohldurchdachten Erprobens mit dem Ziel eines Ergebnißes, das Zufall und Konzept, Seele und Ratio, zusammen zwingt; des Versuchs, der die Möglichkeit wie auch den Reiz des Scheiterns mit einschließt.

Immer stellte sich die Experimentelle der Frage, welche Erfindungskraft und Relevanz die Kunst der Gegenwart heute noch besitzt. Und ob sie überhaupt stets neu und innovativ sein muß. Oder welche Kriterien und Erwartungen an sie gestellt werden dürfen. ist nicht schon alles gemalt, gezeichnet, gebaut, gesagt und erzählt? Ein klares Ja und ein eindeutiges Nein gelten gleichermaßen als Antwort. Gerade in dieser eigentümlichen Paradoxie mag der besondere Charakter der Experimentellen liegen. Es ist die enorme, kaum zu bändigende Vielfalt der künstlerischen Äußerungen, die das einzigartige Profil dieser monumentalen Gesamtschau immer wieder aufs Neue schärft. Zeitaktuelles Kunstschaffen ist und bleibt notwendigerweise von mannigfachen Grenzüberschreitungen und gattungsübergreifenden Ansätzen geprägt. So entwickeln sich die Beiträge der teilnehmenden Künstler im weiten Spannungsfeld zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, grob-expreßiven Bildfindungen und klar strukturierten, konzeptuell angelegten Formulierungen. Spontane Gestik und freie Improvisation treffen auf strenge Formreduktionen und minimalistische Kargheit, explosive Vitalität auf sparsame Askese, schroffe Farbenergien auf durchgeistigte und spirituelle Verhaltenheit, Urkräfte der Natur auf gedankliche Reflexionen. Rein formalästhetisch ausgerichtete Arbeiten werden flankiert von stärker zeit- oder gesellschaftskritisch motivierten Sichtweisen.

Überblickt man die Fülle des Gezeigten so schält sich als ein beachtenswertes Phänomen das ebenso vielschichtige wie frappierende Mit- und Nebeneinander von freier Ausdrucksgebärde und strenger Formgebung heraus. Formauflösung und Formverdichtung, die gefühlsbetonte Zersetzung der bildnerischen Form sowie deren sachliche und ruhige Komprimierung, sind als gleichberechtigte Teile wesentliche Momente in der Ästhetik der Moderne. Im Folgenden sollen punktuelle Schlaglichter auf Künstler und Werke gerichtet werden, bei denen jener Aspekt als Stilkriterium in signifikantem Maße eine Rolle spielt.

Zu den arrivierten und kunstgeschichtlich etablierten Hauptmeistern der Experimentellen gehört seit jeher Helmut Sturm (Abb. Seite 90), Mitbegründer der aktionistischen Gruppe "Spur" 1958 in München und namhafter Exponent des abstrakten Expreßionismus in Deutschland. "Aus dem Bauch her aus mit dem Kopf gemalt", nennt Sturm den heftigen, gestisch bewegten Entstehungsprozeß seiner Bilder, in denen die rabiate Freisetzung künstlerischer Energie das primäre Darstellungsthema ist. Malerei wird gezielt als ,,Experiment" und ,,Abenteuer" verstanden, in deren Kontext das Bild einen räumlich vibrierenden, chaotisch wogenden Kosmos eröffnet, der als intuitive Niederschrift gesteigerter innerer Empfindung einen ,,permanenten Veränderungsprozeß" durchlaufen soll. Im Zuge dieser anarchischen Kraftfelder erfährt die Form eine extreme Auflösung in pulsierende Gefüge von Farbschichtungen, Liniengespinsten, Flächenfragmenten.

Von der maximalen Sprengkraft der Formauflösung leben auch die übergroßen Bildformate von Dieter Krieg (Abb. Seite 99), ein weiterer renommierter Hauptvertreter in der Geschichte der Experimentellen. Seine rauschhaft-orgiastischen Malaktionen hinterfragen, nicht ohne bißigen Humor, unsere Seherfahrungen und die scheinbare Normalität in unserem Alltagsleben. Banale Dinge wie Spiegeleier, Eimer oder Salatköpfe erfahren durch die farbgewaltige und materialbetonte, mit furios dynamisiertem Pinselgestus enthemmt vorgetragene Malerei eine neue, irritierende Realität, welche die Objekte ins Absurde und Groteske verfremdet und den Betrachter mit ihrer unbändigen Vitalität geradezu überwältigt.

Ein organisches Eigenleben entwickeln Farbe und Form in den Kompositionen von Heiko Herrmann (Abb. Seite 30-31) - in den späten 70er Jahren Mitglied des Münchner ,,Kollektivs Herzogstraße", wo hitzige Debatten über Kunst, Staat und Gesellschaft für wichtige Impulse sorgten. Leuchtende Farbkontraste und gestische Formkürzel verkanten sich zu raumbildenden Schichtungen, in denen dunkle Konturierungen grafische Akzente setzen. Als unmittelbarer, rückhaltloser Ausdruck eines existentiellen Lebensgefühls versteht auch Franz Hitzler seine Malerei (Abb. Seite 97). Chaos und Neuschöpfungen von Formen bestimmt seinen stürmischen Schaffenskosmos, der sich als expreßive Innenschau des Künstlers lesen läßt. Malen wird als eruptiver Akt im Sinne einer radikalen ,,Selbstentblößung" begriffen. Das von großer Paßion und nervöser Ekstase getragene Heraußchälen der Form aus einem Urzustand strebt die Transformation ins Geistige zugunsten einer Suche nach Wahrheit und Tiefe an.

,,Wenn ein Bild unbequem ist, ist es gut", erklärt albertrichard Pfrieger (Abb. Seite 39) und vertraut dabei auf die autonomen Kräfte des Malerischen und Zeichnerischen. Seine Arbeiten erscheinen rätselhaft, sperrig, fremd und seltsam unfertig. Ahnungen von Gegenständlichkeiten scheinen auf; die Kompositionen bestechen durch einen spröden Mangel an Ausformung und vermeiden bewußt alles allzu Harmonische und Gefällige, suchen vielmehr im rohen Malprozeß nach einer archaischen Kargheit und elementaren Ursprünglichkeit. Dabei agiert Pfrieger zwischen klaren Formsetzungen und gegenstandsfreien Bewegungßpuren und beschwört durch die automatisierte künstlerische Geste die Rückbesinnung auf das Rudimentäre und Geheimnisvolle einer Bildfindung.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt Raimund Albert Buck mit seinen plastischen Papierobjekten (Abb. Seite 16), in denen die scheinbar unvereinbaren Pole von Formauflösung und Formverdichtung im Sinne einer Destruktion und Konstruktion von Materialstrukturen zu einer verblüffenden, sinnlich ansprechenden Synthese finden. Buck erweitert die Zweidimensionalität des Transparentpapiers in den Raum hinein und gelangt zu neuen, phantastischen Formgebilden. Beim experimentierfreudigen Schöpfungsprozeß mit offener Flamme, verknüpft mit dem Akt des Reißens, durchläuft das Papier mannigfache formale und farbliche Metamorphosen. Komplexe Formstrukturen von schweben der Leichtigkeit und anmutiger Poesie prägen den hohen ästhetischen Reiz seiner Wand- und Hängearbeiten.

Zu zeichenhafter Verknappung der Form auf archetypische Grundmodule treibt Werner Pokorny das Naturmaterial Holz in seinen streng und klar konzipierten Skulpturen (Abb. Seite 59). Aus dem Stamm sind Motive geschält, die als Urbilder menschlicher Zivilisation zu lesen sind: Haus, Leiter, Gefäß. Thematisiert werden Momente des Beschützens, Bewahrens und Umschließens. Durch rigorose formale Reduktionen und die urtümlich gestaltende Kraft des Feuers werden allgemeingültige und zeitlose Grunderfahrungen wachgerufen. In einem konzentrierten Prozeß zwingt Pokorny dem Holz seinen Formwillen auf etwas, das der Mensch im Laufe der Evolution schon immer getan hat, um existentielle Bedürfniße zu befriedigen: Behausung, Werkzeug, Brennstoff. In den markanten Werken verdichten sich Funktion und Form zu starker symbolhafter Prägnanz.

Auf dem Gebiet der zeitgenößischen Holzskulptur gehört Armin Göhringer (Abb. Seite 58), ebenso wie Pokorny, zu den führenden Hauptmeistern im deutschen Südwesten. In seinen Arbeiten unter sucht er die spannungsgeladene Wechselwirkung zwischen kompakt geschloßenen Körpern und offenen, filigran-linearen Formstrukturen. Zentrale Elemente sind dabei die Kontrapunkte von Maße und Leichtigkeit, Stabilität und Labilität, Ruhe und Dynamik. Mit Hilfe der Kettensäge und unter genauer Kenntnis der Druckverhältniße im Holz lotet Göhringer in seinen ebenso zart und zerbrechlich wie auch archaisch und kraftvoll wirkenden Werken die Balance zwischen wuchtiger Monumentalität und sensibel austarierter Fragilität aus.

Das Verhältnis von gestalteter Form und organischen Naturmaterialien bestimmt auch das Schaffen von Angela Flaig (Abb. Seite 27). Anordnung und Außparung der Dinge auf der Fläche und im Raum sind ihre Themen. In akribischer Kleinstarbeit sind aus Samenteilchen filigrane Musterstrukturen und plastisch wirkende Kompositionen gefertigt, mit denen Flaig die Geheimniße der Natur für den Betrachter sichtbar werden läßt. Im systematischen, häufig streng geometrischen Ordnen der Naturstoffe antwortet die Künstlerin den Abläufen und Gesetzmäßigkeiten der Natur. Formal prägen die Kontraste von Maße, Dichte, Gewicht und Leichtigkeit, von klarer Gliederung und wucherndem Wachstum, die außerordentliche, mitunter ins Poetische und Meditative spielende Wirkung ihrer Versuchsreihen.

Im aßoziationsreichen Bezugsfeld von gebauter und gewachsener, gezähmter und wilder Natur agiert Katharina Bürgin (Abb. Seite 96) mit ihren teils begehbaren Installationen aus präzisen Zeichnungen und illusionistischen Objekten, die meist Gartenanlagen zum Thema haben. Momente von Werden, Sein und Vergehen sind in halbtransparente Raumkompositionen übersetzt, in denen sich die Vorstellung von Natur als irritierendes Vexierspiel zwischen Innen und Außen entfaltet. Plastische Seiden papier-Samenkapseln, häufig durchleuchtet und mit Schellack überzogen, erweitern den Begriff von Skulptur ins ironisch Verspielte und siedeln Bürgins Kunst an der Grenze zwischen handwerklicher Dekoration und analytischer Interpretation an.

Bildgestaltung als minimalistisch-konzeptueller Zeichenakt führt uns Chikako Kato (Abb. Seite 71) vor Augen. Ballungen, Häufungen und Streuungen von miniaturhaften Musterstrukturen auf weiten leeren Flächen prägt ihre kontrollierte, auf das Eßentielle reduzierte Formensprache. Erinnerungen an Dekore und Ornamente werden wachgerufen. Freie Bewegungen und strenge Ordnungen der Formteilchen sowie das Mit- und Gegeneinander von Leere und Dichte, Einzelelement und formierter Gruppe, klingen als Themen an. Die Beschränkung auf ein Minimum an Form und Struktur und der weitgehende Verzicht auf Farbigkeit prägen die in sich ruhenden, monochromen Gemälde von Hideaki Yamanobe (Abb. Seite. 92). ,,Luft und Atmosphäre sowie Klänge, Licht und Temperatur" sollen erfahrbar gemacht werden, so der Künstler zu seinen schwerelos wirkenden Bildern, die sich zu verflüchtigen scheinen und in imaginäre Räumlichkeiten auflösen. Harmonie, Stille und Offenheit kennzeichnen den introvertierten, von fernöstlicher Geistigkeit durchdrungenen Ausdrucksgehalt. Das Prinzip der Formauflösung verbindet sich dabei mit der atmosphärischen Verdichtung wolkiger Unschärfen, gewonnen aus diffusen Helligkeitßchwankungen. Somit erweist sich Yamanobe als Meister der leeren Bildräume und sinnlich schwingenden Zwischentöne.

Wild, laut und bunt tritt uns dagegen Spencer Whittle (Abb. Seite 53) in seinen comicartig konzipierten, stark erzählerisch motivierten Kompositionen entgegen, die formal und inhaltlich Bezug nehmen auf die New Yorker Graffiti-Szene der 80er Jahre. Logos und Zeichen, Buchstaben und Zahlen, Textbotschaften und Gesichter, verdichten sich zu collagehaften, kaleidoskopartigen Bildwelten, in denen sich afroamerikanische Volkskunst und moderne Alltagskultur zu einem expreßiv-agitatorischen Gefüge, angereichert mit gesellschaftskritischen Untertönen, durchdringen.

Mit den Strategien tektonischer Formvereinfachung arbeitet Jürgen Knubben in seinen rosttragenden Stahlplastiken (Abb. Seite 72), die vielfache Bezüge zu Architekturen aufweisen. In der Werkgruppe ,,Città Ideale" entwirft er hermetisch geschloßene Haus- und Turmkörper, welche die reine, zu Archetypen komprimierte Formgestalt betonen. Kreuzweise ineinandergreifend oder parallel gestaffelt, sind die Hausgebilde zugespitzt verfremdet, verschließen sich einer sinnvollen Nutzung, die Turmbauten scheinen zu schwanken. Intendiert ist die ironische Brechung der Bedingungen von Statik und Stabilität, von Tragen und Lasten in der Architektur. Der alte Traum des Menschen von der "idealen Stadt" wird ad absurdum geführt.

Komplex ineinanderfließende Flächen und Volumina, verbunden mit einer Vorliebe für Biegungen, Schwünge, Kurven und Verdrehungen, prägen die dynamischen Stahlplastiken von Rüdiger Seidt (Abb. Seite 62). Elegant und harmonisch im Ausdruck, thematisieren sie die Kraft und Spannung der reinen, elementar reduzierten Form, deren innewohnende Energien über sphärische Wölbungen und gedehnte Streckungen in den Raum drängen. Mit ihrem reizvollen Wechselspiel von Ruhe und Bewegung und der Beschränkung auf die absolute Form sind Seidts Arbeiten als Raumzeichen zu deuten. Der Verräumlichungsprozeß der Form zwischen Fläche und Farbe kennzeichnet das Schaffen von Frank Renner (Abb. Seite 87-88). Streng geometrische Farbzonen und transparente Hell-Dunkel-Felder überlagern sich zu einem ebenso konstruktiv geordneten wie frei schwebenden Davor und Dahinter. Maß und Regelhaftigkeit prägen die klare und präzise Bildorganisation. Daneben experimentiert Renner aber auch mit organisch fließenden Bildzeichen, in denen die Formen surreal anmutende Metamorphosen durchlaufen.

In sphärisch aufgelöste und traumartig wirkende Bildwelten entführt den Betrachter Jacqui Colley(Abb. Seite 17-22) aus Neuseeland, der die Experimentelle 17 auf Schloß Randegg eine kleine Werkschau widmet. Luzide Überlagerungen von intensiv leuchtenden Farb- und Flächenschichtungen evozieren bedeutungsvolle Wahrnehmungs- und Gedankenebenen, in denen sich figurative und gegenstandslose Versatzstücke zu narrativ intendierten Kompositionen verdichten. Streng reduzierte Konturzonen kontrastieren mit freien Formbewegungen; starke Hell-Dunkel-Kontraste erzeugen spannungsreiche Wechselwirkungen zwischen Nähe und Ferne, Dichte und Offenheit. Colleys Schaffen vollzieht sich in größeren Werkserien mit Titeln wie ,,The Audible" oder "Sequence & Fluency": Klänge, Sprache und Kommunikation, Daseinszustände des Menschen sowie das Fließende, Unbestimmte und Rätselhafte klingen als Grundthemen an.

Weiteres zur Experimentellen 17

Aktuelle Informationen zur EXPERIMENTELLEN 17 
FREIE GESTE - STARKE FORM, von Dr. Andreas Gabelmann 
Vernissage der EXPERIMENTELLEN 17 am 06.07.2012 in Randegg (D)
Rundgang Schloss Randegg, Deutschland 
 
Rundgang Randegg, Österreich
Teilnehmende Künstler / Katalog