Der gewagte Hund

von
Markus Stegmann
 
      
Fragen an fünf Bilder, Fragen an Malerei, Fragen an uns und unsere Zeit. Wer Bildern zuhört, erfährt zunächst ganz lapidar etwas über Farbe und Form auf der Leinwand, doch zugleich immer auch etwas über sich und seine Zeit. Indem Bilder notwendigerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen, fliesst unwillkürlich etwas vom Lebensgefühl der Epoche darin ein. Und doch gibt es grundsätzliche malerische Haltungen, künstlerische Einstellungen, die sich über die Zeiten hinweg von Künstlergeneration zu Künstlergeneration fortsetzen. Dies kann beispielsweise die naturalistisch motivierte, naturwissenschaftlich präzise Beobachtung sein, die ihr Objekt wie unter kaltem Neonlicht bis in die letzte Faser seziert. Dies können ebenso symbolistische, surreale Mutmassungen über das Unbekannte der Welt sein, das der Wirklichkeit auf beängstigende Weise den Boden unter den Füssen wegzieht. Und dies kann die expressive Geste bedeuten, die sich aus einer existentiellen Verunsicherung und Bedrängung heraus auf der Leinwand ereignet als Ausdruck menschlichen Leidens und Zweifelns. Nicht der Stil entscheidet über die Qualität eines Bildes, nicht der jeweils herrschende Zeitgeschmack, schon gar nicht die modische Attitüde, sondern Authentizität und Dringlichkeit. Wie dringend ist ein Bild? Mischt es sich aus eigenem Antrieb in unsere Empfindung ein? Hakt es sich in unserem Gedächtnis fest? Agiert und spricht es, oder bleibt es tot und stumm?
       Das sind Fragen an Malerei, Fragen an Kunst generell und Fragen, die wir im Folgenden an fünf ausgewählte Bilder der EXPERIMENTELLE 15 richten. Die Ausstellung findet zeitgleich in drei Ländern an drei Orten statt: Randegg (Deutschland), Thayngen (Schweiz) und Randegg (Österreich). Wie für jede EXPERIMENTELLE hat Titus Koch einmal mehr unterschiedliche künstlerische Positionen der Gegenwart aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt, wobei die Malerei einen besonderen Stellenwert einnimmt, genauer gesagt, eine Form der Malerei, die der expressiven Geste, dem emotionalen, inneren Ausdruck der Kunstschaffenden vertraut und darin nach den Qualitäten des Authentischen und Archaischen sucht.

Hoellering Was denkt dieses Tier mit seinem Rüssel, seinem spitzen Stachel? Ein Insektensäugetier, ein fliegender Elefant ohne Flügel, oder doch eher ein verwackelter Hund? Was saugt sich dieses Tier, diese Fata Morgana einer unbekannten Spezies, aus dem dunklen, nassen Grün? Oder schwimmt es gar, watet es halb untergetaucht in trüben Tümpeln? Das Grün zimmert dem Tier einen halbwegs stützenden Halt, einen rohen Hintergrund, von dem es sich farblich abheben kann, innerhalb dessen es gleichzeitig auf die Weide geht. Farbspuren, partielle Übermalungen, signethafte, halb getilgte, verzogene Kürzel oder einfach ein Kratzen, Schaben und Löschen hier und da im Bild treten hinzu, konkretisieren kaum, im Gegenteil, verwischen und verwackeln die Szene. Was sich hier zuträgt, können wir nur ahnen. Zwar bleiben wir ohne Gewissheit, doch tritt uns mit dringlicher Ahnung dieser Hirsch I (1989) von Stefanie Hoellering (geboren 1955 in Kempenhausen, gestorben 2000 in München) gegenüber. Das Bild ist mehr schemenhafte Höhlenmalerei als Leinwandbild, mehr Bildarsenal im Sinne unzähliger Möglichkeiten als konkrete bildliche Darstellung eines bestimmten und nicht anders gemeinten Objekts. Daher interessiert nicht einmal so sehr die Frage, ob dieser Hirsch tatsächlich ein Hirsch ist als vielmehr: Wenn ein Tier unter traditionellen Vorzeichen derart desolat und baufällig entgegentritt, was bedeutet dann sein materieller Entzug, sein Verwackeln und Auflösen in einer Bildfläche? Was bedeutet dieses Bild- Ereignisfeld, die ungeschützte Wildbahn mit ihren Fallen, Abgründen und Tretminen? Kein Jäger möchte dies arme Tier erlegen und sich mit seinem Geweih – so es denn überhaupt ein solches trägt –, mit der Geste des Triumphes schmücken. Und doch besitzt das Tier eine bohrende Eindringlichkeit, eine entwaffnende Schutzlosigkeit und gleichzeitig Schutzbedürftigkeit, die uns fesselt, die uns die existentielle Einsamkeit des Tieres ungefiltert erleben lässt, und das, obwohl das Bild bereits fast zwanzig Jahre alt ist und die Künstlerin in jungen Jahren verstorben.

Waydelich Wie der Wal Jonas verschlingt, so hat ein gefrässiges Hörnerschwein mit besonders scharfen Zähnen eine Cranach’sche Venus samt Honigdieb verschluckt. Doch schon dreht sich die Venus und beginnt als ihr eigenes Spiegelbild aus dem dicken Hundeschwein herauszuschweben, ihm mit leichter Hand zu entkommen, der nichts anderes kennt, als bereits die nächste Beute zwischen die Zähne zu nehmen, einen böse dreinblickenden, grünen Fisch. Vier schemenhafte Figuren, der mittlere von ihnen mag Jonas sein, bevölkern das Geschehen, entfernen sich mit einem motorisierten Krad oder entschweben in übersinnlichem Gelb nach oben, wobei zwei schwarze Pfeile die Nägel andeuten, an welchen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Man kann dieses Bild von Raymond Waydelich (geboren 1938 in Strassburg-Neudorf, lebt in Hindisheim bei Strassburg) als Altmeisterübermalung, als Reibung an einer zentralen Figur abendländischer Kunstgeschichte oder in einem christlich-religiösen Zusammenhang lesen. Der Schweinehund ist und bleibt die zentrale Figur des Bildes, obwohl er seine reduzierte Gestalt nur aus einer blossen Umrisslinie formt, so fleischig dick und voluminös das Tier auch ist. Keine Frage: Das Hundeschwein ist der Chef und frass den weiss vernebelten Cranach ebenso wie die schmächtige, dürre Christusfigur, doch kann er weder die kokett ihm entweichende Venus noch den himmelwärts strebenden Geist auch nur ansatzweise aufhalten. Das Tier bleibt mit allen vier Hufen (oder sind es Pfoten?) auf dem Boden der Tatsachen am unteren Bildrand kleben. Massig, aber durchlässig, gefährlich um sich fressend, aber hilflos gegenüber den ersten Versuchen, ihm zu entkommen.

Pfrieger Was für ein Becher ist das, den albertrichard Pfrieger (geboren 1951 in Randegg/D, lebt in Moos) uns malt? Und wenn es kein Becher ist, ist dies ein Hut? Und wenn es kein Hut ist, was ist es dann? Was kann dieses Rätselding sein, aus wenigen Pinselstrichen geschaffen, auf einen rohen, weissen Grund gestellt mit ein paar gebohrten Löchern dazu? Bocca (2002) ist eine Sphinx: Frag mich, und ich sag dir, wer du bist. Wir fragen dieses seltsame, komisch kantig-runde Ding und fragen es immer wieder neu. Aber es bleibt das Rätsel, das es ist. „Mund“, bedeutet uns der Titel und hat wohl selbst seine Zweifel daran. Wenn das unten ein Mund ist, ist das Viereckige oben ein Gesicht? Doch Mund und Gesicht stehen weit aufgeklappt auf dem weissen Feld, so weit, dass es schutzlos reinregnen, dass es durch Mund und Gesicht glatt hindurch regnen könnte. Wenn ein Mund ein Loch ist, wie ist es dann um den Mund bestellt? Doch der Becher und der Hut, der Mund und das Loch, das Ding und das Denken drum herum, sie alle verändern sich. Sie wechseln ihre Identität, sie locken uns auf unvorhergesehene Pfade eines unbekannten Geländes, an deren Rändern höchst merkwürdige Blumen blühen. Wir wundern uns immer neu, aber wir wundern uns jedes Mal ein wenig anders. Das ist die Magie dieses kleinformatigen Bildes: Wir hören nicht auf, uns zu wundern, aber Wundern und Staunen legen währenddessen einen Weg zurück. Das Ding selbst wundert sich, wir wundern uns gemeinsam, und so wachsen wir ein Stück zusammen und staunen beide über das, was dies Rohe alles sein kann, wie es sich jedes Mal anders anfühlt, mal leichter, mal schwerer in unserer Hand wiegt, nur aus ganz wenig Farbe gemacht ist und gleichzeitig uns an so vieles denken lässt, für das wir nicht immer einen sprachlichen Ausdruck finden.

HofmayerAnton Hofmayer (geboren 1950 in Randegg/A, lebt ebendort) drückt kraftvolle, frische Rohre durchs Bildformat, lässt unsichtbaren Strom durch die Schläuche pulsieren, behält die Szene in erstaunlich lebendigem Grau, auch wenn hier und da ein wenig Weiss flackert, da und dort dunkle Nacht dräut. Aus dem dynamischen Druck des grauen Materials schiessen wie Adern eines Blitzes zwei Energieströme durchs Bild. Sie beherrschen uneingeschränkt das Format, stauchen die anderen grauen Elemente in den Hintergrund, hissen die Segel, lassen eine Sturmböe den Spinnaker aufblähen und fahren auf und davon. Wie kann ein mausiges Grau so stark sein? Wie gelingt es dem Grau, so hitzig zu sein wie ein Rot? Anton Hofmayer überrascht uns, zeigt, welch archaische Kraft, welch unberechenbare Energie in einem belanglosen Aschgrau, in einer Nichtfarbe sondergleichen stecken kann. Dieses Bild verzichtet leichthin auf alle gegenständlichen Interpretationskrücken. Es hat schlicht und einfach keine figurativen Erklärungsfloskeln nötig. Ein Grau reisst den Himmel auf, lässt Starkstrom durchs Bild zischen. Das Bild ist bestechend präsent und das, obwohl es auf die sinnlichen Reize von Buntfarben fast vollständig verzichtet. Hier öffnet kein Pfau aufreizend seinen farbigen Fächer, im Gegenteil, der Entzug an farbiger Raffinesse, das Vertrauen auf Asche und Armut macht den puren Charme des Bildes aus. Der barocke Überschwang gewinnt uns durch sein archaisch unkontrolliertes Brodeln, durch Sack und Asche, durch seine trutzige Kargheit. Wenn gegenstandslose Malerei heute noch ein Wort zu sagen hat, dann indem sie die Möglichkeit prüft, verarmt und verregnet mit der scheinbaren Belanglosigkeit kryptischer Gestalt die Frage nach dem Wohl und Wehe der Abstraktion von Neuem aus dem harten Fels zu meisseln.

DirnhoferSechs kleine Planeten treiben vor einer kosmischen Farbsymphonie, die mal heller, mal dunkler, mal dichter, mal durchsichtiger das farblich orchestrierte Terrain der Gegenstandslosigkeit neu sondiert und seine Bezugspunkte zu unserer Zeit erforscht. So ganz streng gegenstandslos ist diese überbordende Welt von Veronika Dirnhofer (geb. 1967 in Horn/A, lebt in Niederösterreich) allerdings nicht: Immer wieder begegnen uns im Bild Partien, die an Landschaftliches erinnern oder andere Gegenstandsbezüge aufscheinen lassen. Wo aber ist oben und unten in diesem Kosmos? Das Einzelne ist mit dem Ganzen verwoben und scheint in einer Sphäre jenseits unserer positivistischen Erfahrbarkeit angesiedelt zu sein. Wenn wir die differenzierten farblichen Valeurs und ihre fein gesponnenen Dialoge untereinander fokussieren, wenn wir die geschickt platzierten Kontraste von Hell und Dunkel, von Fest und Flüssig beobachten, fällt die romantisch verzauberte Atmosphäre dieses aus Raum und Zeit katapultierten Gefüges besonders ins Auge. Doch kann Malerei heute überhaupt noch glaubwürdig so etwas wie romantische Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit zum Ausdruck bringen? Indem Veronika Dirnhofer die romantische Empfindung in der Gegenstandslosigkeit ansiedelt, sie in ein traumverlorenes Fliessen und Treiben transformiert, erreicht sie eine bizarre, ins Fantastische mündende Stimmungslage, die einen durch und durch zeitgenössischen Charakter besitzt. Die schillernde Romantik ist glaubhaft, weil die Härte der malerischen Kontraste Überzuckerung und Übersteigerung zurückbinden. Die stimmungsvolle Leichtigkeit verdankt sich erdiger Schwere. Der Anschein transzendenter Verzauberung hat eine Vielzahl roher, ungeschlachter Formen und Farben als Voraussetzung.

Bilder:

Stefanie Hoellering, Hirsch I, 1988, Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm
Raymond Waydelich, Sieg Satos, 2007, Mischtechnik auf Leinwand, 102 x 149 cm
albertrichard Pfrieger, Bocca, 2002, Mischtechnik auf Sperrholz, 40 x 30 cm
Anton Hofmayer, Ohne Titel, 2006, Öl auf Leinwand, 150 x 124 cm
Veronika Dirnhofer, Ohne Titel, 2008, Mischtechnik auf Leinen, 150 x 200 cm


Weiteres zur Experimentellen 15

Aktuelle Informationen zur EXPERIMENTELLEN 15 
Vorwort zur EXPERIMENTELLEN 15, von Frank Hämmerle, Landrat
Der gewagte Hund, von Markus Stegmann 
 
Rundgang Randegg, Deutschland
Teilnehmende Künstler / Katalog
Über den Katalog zur Experimentellen 15